Regentropfen des Gefühls

■ Die russischen Pantomimen „Himbeerbeet“ im Künstlerhaus Bethanien

Eine internationale Woche „Gestisches Theater“, das ist etwas für mundfaule Schauspieler und für entspannungsbedürftige Zuschauer, also für mich, wie ich da im „Himbeerbeet“ sitze, nicht von Dornen zerkratzt werde, sondern eine sowjetische Detailmalerei der Pantomime erlebe.

Es geht ganz naiv: Ein furchtbar trauriges Mädchen steht da ganz in Schwarz mit einer Tulpe in der Hand und lehnt sich an die Wand. Da kommt einer aus dem Himmel gefallen und lehnt sich auch an die Wand. Sie gucken sich so ein paar Mal an und lächeln ein bißchen, und sie zittert wie Espenlaub, wann immer er die Luft bei ihrem Haar bewegt. Es ist eine große Hoffnung und eine riesengroße Vorsicht. Nachdem sie sich die Augen aneinander völlig verrollt haben, nimmt er seinen großen Zeh und berührt damit ihren großen Zeh, und sie schöpft so langsam Vertrauen aus diesem Regentropfen des Gefühls. Da gibt sie ihm die Tulpe. Und er - wollte er das alles denn nicht? Er schreit laut auf, bricht auf dem Boden zusammen, bleibt liegen. Da macht sie große Schritte über ihn hinweg, ganz unbekümmert.

Ein Mensch wird an Armen und Beinen auf die Bühne geschleppt und abgelegt. Der Arm bleibt über der Brust liegen, es kann irgend jemand sein, die anderen, die Träger, erhalten Kommandos aus dem Lautsprecher, right foot, point strech, left foot, point - strech, die klassische Modern -Dance-Tanzanweisung. Sehr ruckartig zappeln sie los, gliederpuppenhaft, haben das eine Kommando einfach mit dem anderen verwechselt und bleiben doch ganz leicht dabei.

Der fliegende Robert aus dem Struwwelpeter-Buch kommt mit seinem Regenschirm daher und flaniert als Luftikus an der Weltgeschichte entlang. Da geht's aber los: Zwei Kerle mit Holzkeulen in den Händen und grün-groben Anzügen prügeln auf ihn los, aber er windet sich, so lädiert er auch sein mag, heraus und sucht das Weite. Ob er es findet?

Zwei Männer sind mit Essen beschäftigt. Einer trägt eine Gasmaske, der andere ein Sowjetunion-T-Shirt. Weil das, was sie auf dem Teller haben, anscheinend nicht reicht, fangen sie an, sich gegenseitig Fleisch herauszuschneiden, gegen den Schweißgeruch wird Deo gesprayt.

Wieder ein anderer versucht, an sich selbst glücklich zu werden, steht auf einem Sockel und blättert sich langsam aus seinem Militärmantel heraus, entschlackt sich Knopf für Knopf zum Dandy hin. Der rote Stern glänzte einst an der Brust, war ja dann aber fort. So trägt er noch rote Shorts im Fortlauf der Dinge, darunter aber einen ganz süßen schwarzen Slip. Ja, ja. Unter dem schwarzen Slip? Flitzt ein roter Stern hervor, ein anderer, neuer, ein ewiger, der sich wieder an die Brust heftet, fliegt und klebt, und einfach nicht wegzukriegen ist. Da kommt dann auch schon ein Polizist des Weges, und dieses lebendige Statuten-Wesen muß

-husch, husch - vom Sockel runter, und mit der ganzen Freude war es wieder mal nix.

Es gibt auch einen Amok-Schießer aus dem Wilden Westen, der reitet sich auf dem Holzbesen in Form und ballert aus dem grünen Schlabber-Sakko heraus, bis von der Welt nichts übrig bleibt. Aber was sollte schon gerettet werden? Da kommt wieder ein Polizist...

Wieder kommt die traurige Frau, mit schauerlichen Augenringen steht sie da, hält einen braunen Lottermantel vor sich und schläft im Stehen. Nur, daß sie nun auch grüne Pantoffeln trägt! Als sie den anderen diesmal sieht, fällt sie gestreckt auf ihn drauf, er faßt ein bißchen schön an ihr rum, und dann ist sie doch sauer, weil es wieder nicht klappt. Als er mit seinem Besen wegreitet, hext sie ihm wie wild mit ihrem roten Kopftuch hinterher.

Zum Schluß findet sie sich ganz allein vor einem Seilhaufen, trudelt sich in diese Stricke ein und merkt gar nicht, was sie eigentlich tut. Ein bißchen fassungslos, wie sie schon verwebt ist, in dieses tödliche Element.

Seit sechs Jahren spielt die Gruppe „Himbeerbeet“, Laienschauspieler aus Gorki, dieses Programm, das sich als eine Nostalgie der 60er Jahre begreift. Da sie selbst als „Winterkinder“ den Prager Frühling gar nicht miterlebt haben, ist diese Pantomime bewußte politische Erinnerung, bei allem „sozialistischen Realismus“ eine sehr gelungene meditativ-surreale Detailshow der Selbstwahrnehmung.

Sophia Ferdinand

Im Rahmen der „Internationalen Woche Gestisches Theater“ tritt heute sowie am 3. und 4. Juli, jeweils 20 Uhr, eine weitere Gruppe aus der UdSSR, der „Mime-Theater Prospekt“, im Berliner Prater, Kastanienallee 7, 1058 Berlin, auf.