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Gorbatschow auf der Flucht nach vorn

■ Der gestern begonnene 28. Parteitag der größten KP der Welt wird in neun Tagen darüber zu entscheiden haben, ob Gorbatschow Parteichef bleibt oder die Perestroika an der Partei vorbeigeht. Mit einem selbstkritischen Rechenschaftsbericht versuchte Gorbatschow zu Beginn wieder in die Offensive zu kommen. Durch Kritik an beiden Flügeln soll eine Spaltung der Partei vermieden werden.

Parteitag der KPdSU entscheidet über historische Zäsur

Um Punkt 10 Uhr lag das riesige Schild mit der rot-weißen Aufschrift „Pressezentrum des 28. Parteitages der KPdSU“ immer noch vor dem Eingang auf dem Boden. Und die Arbeiter drumherum machten keine Anstalten, es dort hinzuhängen, wo es eigentlich hingehörte. So etwas wäre noch beim letzten Parteitag nicht passiert. Wenn etwas klappte in der Sowjetunion, dann waren es mit Sicherheit die Selbstinszenierungen der Partei. Soweit nur ein Randaspekt, aber er symbolisiert sinnfällig den rapiden Bedeutungsverlust der Partei in den letzten Monaten. Hatte ein Kongreß früher Festtagscharakter, so ist er heute ein Tag wie jeder andere. Nur schwant vielen, daß vom Ausgang des Parteitages auch ihr Schicksal in nicht unbeträchtlicher Weise abhängt.

Ein gutgelaunter Generalsekretär eröffnete pünktlich den Kongreß im Kreml-Palast. Einige hundert Demonstranten hatten vor Einfahrt der schwarzen Limousinen in das Kreml-Gebiet die Delegierten mit Slogans begrüßt wie: „Für Verbrechen gegen das Volk zieht die Kommunistische Partei zur Verantwortung!“ Die Polizei drängte die Demonstranten ab, soll aber keinen verhaftet haben. Anders als beim 1. Mai hatte sich Gorbatschow davon nicht aus der Ruhe bringen lassen.

Im Unterschied zu den vorangegangenen Kongressen nahm die Eröffnungsprozedur gestern über zwei Stunden in Anspruch, gewöhnlich hatte man das in zwanzig Minuten erledigt. Zur Abstimmung standen neben dem Zeitplan die Absegnungen der personellen Besetzungen der Parteikontrollkommission und des Redaktionskomitees des Kongresses. Einige Delegierte übten Kritik an der Zusammensetzung der Gremien, weil in ihnen die Arbeiter unterrepräsentiert seien. „Wir sind alle Delegierte einer Partei, daher sollte nicht so viel Bedeutung auf Klasse und Herkunft gelegt werden. Ich bitte den Generalsekretär darauf zu achten. Und die Belorussische Delegation beschwerte sich, daß in ihrer Umgebung kein Mikrofon stand. Das war sicherlich keine Absicht, denn den Weißrussen wird keine Neigung zum Reformradikalismus nachgesagt.

Diesen vertrat ein junger Mann, der sich als Jurj Woldajew aus Leningrad vorstellte. Mit Blick auf das anstehende Mehrparteiensystem und einer 73 Jahre währenden Alleinherrschaft der Kommunisten solle der Kongreß in die Tagesordnung einen Punkt aufnehmen, der „die Verantwortlichkeit der Partei gegenüber dem Volk“ überprüfe. Außerdem verlangte er eine Schätzung des Eigentums der Kommunistischen Partei. Und als letzten Vorstoß, den Parteitag doch noch zu verschieben - wie es die demokratische Plattform letzte Woche schon versucht hatte -, beantragte er eine Abstimmung über eine zeitliche Teilung des Kongresses. Die Delegierten beantworteten das Anliegen mit einem klaren Nein. Von den 4.625 Kommunisten stimmten nur etwas mehr als dreihundert dafür.

Harte Attacken

gegen die Parteiführung

Auch die Abstimmung zur Änderung der Tagesordnung und personellen Erweiterungen und Umbesetzungen zeigten deutliche Mehrheitsverhältnisse. Mit dreieinhalbtausend zu tausend wurde meistens den gemäßigten konservativen Anträgen stattgegeben. Eine ziemlich harte Attacke gegen die noch amtierende Parteiführung ritt der Delegierte Bludow aus Magadan im fernen Osten gleich zu Anfang wegen ihrer Unfähigkeit, das Nahrungsmittelproblem in den Griff zu bekommen, sollten keine Mitglieder des Zentralkomitees des Politbüros in das Kongreßpräsidium gewählt werden. Das Plenum entschied zwar nicht über diesen Antrag, aber in einer abgeschwächten Variante kam ein ähnlicher durch, der die zwanzig Politbüromitglieder aufforderte, einen persönlichen Rechenschaftsbericht abzugeben.

Präsident Gorbatschow gelang es gerade noch, indem er mit dem Zeitfaktor argumentierte, die Rede von einer Stunde pro Politbürokopf auf zwanzig Minuten zu drücken. Die abschließende Abstimmung verlängerte die Tagungsdauer des Kongresses um drei Tage auf insgesamt zehn Tage.

In seiner Eröffnungsrede wandte sich Gorbatschow zuerst an die konservative Adresse: „Es gibt Stimmen im Land - eine Opposition hat sich formiert -, die für alle Mißstände im Lande die Perestroika verantwortlich machen will. Entschuldigt meine scharfen Worte, aber das ist ausgemachter Blödsinn.“ Und zur Untermauerung seiner Behauptung nannte er die jahrelang geleugneten Nationalitätenkonflikte, die Umweltkatastrophen, Tschernobyl. „Sind dies nicht alles Folgen einer seit Jahrzehnten vertretenen Politik?“ so der Generalsekretär rhetorisch. „Ich spreche nicht einmal von der Militarisierung unserer Wirtschaft oder von den Opfern des Afghanistan-Krieges.“ Schon seit längerem zeichnet sich ab, daß die UdSSR auf dem „Wege zweiter Klasse“ sei. „Entweder man schreitet jetzt auf die Gesellschaft mit tiefgehenden Transformationen zu, oder die Gegner der Perestroika werden die Oberhand gewinnen. Und dann brechen dunkle Zeiten für das Land und die Menschen herein.“ In diesem Zusammenhang spielte er auf die zunehmenden Widerstände aus Partei und Apparat an. Andererseits verwandte er häufig solche harmonisierenden Wendungen wie: „Keiner hier im Saal, Genossen, hat daran ein Interesse... !“

Im ersten Teil seiner Rede sah es so aus, als würde sich Gorbatschow für eine relativ unwahrscheinliche taktische Variante entscheiden: den Schulterschluß mit der demokratischen Plattform, verbunden mit dem Versuch und dem drohenden Szenarium, „wenn ihr nicht mitmacht, gehen wir alle vor die Hunde“, noch einen Teil der Konservativen mit rüberzuretten.

Eine zweite Möglichkeit des Ausganges des Kongresses schien bisher die naheliegendste: eine Stillegung des konservativen Protestes durch die Preisgabe der Radikalen. Und als letztes tauchte nach dem Gründungskongreß der Kommunisten auch noch ein Durchmarsch der Konservativen auf. Die Zukunft der Partei wäre in diesem Falle ziemlich ungewiß.

Klaus-Helge Donath, Moskau

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