Lebewohl der Literatur

■ Vor zwei Wochen wurde zum letzten Mal die französische Literatursendung „Apostrophes“

mit Bernard Pivot ausgestrahlt

Von Christine Baumann

Aam Freitag, den 22.Juni 1990, saßen um 20.40Uhr ungefähr drei Millionen französische Zuschauer vor ihrem Fernsehgerät und schalteten auf Antenne2, ein letztes Mal hörten sie die Takte des ersten Klavierkonzerts von Rachmaninow. Ein letztes Mal widmeten die Feuilletons ihre Kolumnen den Krawatten des Bernard Pivot und der Frage, ob das Medium Fernsehen die Literatur profaniere oder ihr möglicherweise diene. Ein letztes Mal hörten die Presseattaches der großen Verlage die Musik des Vorspanns und fragten sich, wieviele Autoren aus ihrem Hause an diesem Abend anwesend sein würden, während sich die Leiter der kleinen Maison d'Edition ein letztes Mal fragten, ob denn überhaupt einer ihrer Autoren auftreten würde.

Am Freitag, den 22.Juni 1990 verabschiedete sich Bernard Pivot. Die Institution Apostrophes, Alp und Stolz der französischen Intellektuellen und Frankreichs bekannteste Literatursendung, hatte nach fünfzehn Jahren ausgedient.

Rachmaninow, also, die ersten Takte des ersten Klavierkonzerts. Es beginnt mit einem Versprechen - die Ankündigung einer Rückschau auf die besten Momente mit den berühmtesten Apostrophes - und es folgt eine Überraschung - im Verlauf des Abends will jeder der anwesenden Autoren sein Lieblingswort aus der französischen Sprache verraten. Man sieht ein Dekor mit Regalen und Büchern aus Pappe, einen Ehrengast auf einem Sessel - und auf einer Tribüne, wie Primaner auf Schulbänken, achtzig Auserwählte, achtzig französische Autoren: Goncourt -Preisträger und Mitglieder der Academie Francaise, Minister und mitunter auch ein Komiker. Und dann, Bernard Pivot, grauer Anzug, gestreiftes Hemd, getüpfelte Krawatte. Das Ritual kann beginnen.

Man sieht den Ehrengast, Georges Lubin, einen fragilen, alten Mann mit lebhaftem Gesicht, Herausgeber des Briefwechsels von George Sand. Man sieht in Großaufnahme einen grauen Strumpf, einen schwarzen Schuh und vierundzwanzig auf dem Boden gestapelte Bände. Georges Lupin bekundet seinen Dank. Ja, er, der schlechte Romancier, wie er sagt, verdanke der Namenskusine ohne S, daß er kein Verbrechen an der Literatur begangen habe, indem er einfach die Finger davon ließ. Er sitzt ganz ruhig, Georges Lubin, und lächelt für sich. Schwenk auf Pivots Gesicht, Lesebrille auf der Nasenspitze, buschige Augenbrauen: Ich bin froh, Sie heute Abend mit dieser Hommage ehren zu können - und jetzt, Beifall. Man hört die Tribüne klatschen.

Man sieht Charles Bukowski im Jahre 1978, Kopfhörer auf, Glas Weißwein vor sich. Man hört den Schriftsteller Cavanna sagen, er habe beim Lesen von Bukowskis Werk vor Vergnügen geweint. Dann hört und sieht man Bukowski. Bukowski trinkt, Bukowski betrinkt sich, Bukowski lallt, Bukowski platzt, Bukowski wird hinausgeschmissen. Die Kamera schwenkt auf die Versammlung der Achtzig. Sie klatschen nicht.

Man hört die ersten Lieblingsworte der Achtzig. Mere, sagt ein ehemaliger Goncourt-Preis, weil es auch Meer bedeutet. Abime, sagt ein ehemaliger Medicis-Preis, wegen des „accent circonflexe“.

Und es folgt eine Sternminute von Apostrophes: Jean Daniel, Herausgeber vom 'Nouvel Observateur‘, Jean d'Ormesson, Chroniker beim konservativen 'Figaro‘ und, im Hintergrund, Solschenizyn. Man sieht den verkniffenen Herausgeber und den schadenfrohen Chroniker sich befehden. Vergeblich versucht man ein Wort des Alexander Solschenizyn zu hören. „Gulag“, „Stalin“, „Pinochet“ vernimmt man von Zeit zu Zeit. Die Kamera schwenkt ins Jahr 1990, ins Pappstudio und auf die Gesichter des noch immer verkniffenen Herausgebers und des noch immer schadenfreudigen Chronikers

-Gulag, Stalin, Pinochet. Mehr vernimmt man nicht.

Und wieder Szenenwechsel und wieder zurück in den Prunk der Vergangenheit, diesmal ist die Rede von Blumen und Tieren. Man erfährt en passant, daß Medusen sich zärtlich lieben, ohne sich je zu berühren, bevor die Kamera auf die Tribüne schwenkt und Alain Decaux, Minister für Francophonie zeigt, der sich beim Buchstabieren seines Wortes verheddert.

Man sieht noch einen Nabokow hinter dicken Brillengläsern (1975), einen Marcel Jouhandeau unter einer roten Mütze (1978) und Serge Gainsbourg vor einem dunklen Flügel (1986). Man sieht auch Bernard-Henri Levy im Jahre 1978. Schwarze Mähne, scharfe Züge, weit offenes weißes Hemd. Selbiger Jüngling am 22.Juni 1990, Mähne, Züge und Hemd, etwas vager, etwas fader. Man hört Pivot den Neuen Philosophen etwas bezüglich seines Hemdes fragen und den Neuen Philosophen etwas bezüglich seines Hemdes antworten.

Man sieht die berühmteste Literatursendung der Welt, so 'Liberation‘. Man schweift mit den Gedanken ab und erwacht rechtzeitig, um den letzten der sieben anwesenden Mitglieder der Academie Goncourt, Michel Tournier, schmallippig das Wort laconique aussprechen zu hören. Man schaut auf Pivot, man hört wie die zwei berühmten Margueriten angekündigt werden.

Duras. 1985. Sie sitzt, in ärmelloser Jacke und weißem Rollkragenpullover. Sie spricht über L'Amant und über das Schreiben. Sie sagt, daß das Schreiben ein komisches Ding ist, daß es die Hölle ist, daß man es, wie Bakunin über das Glück sagte, vielleicht auch erleben könnte, ohne zu leiden. Man schaut sie an, man hört ihr zu, man weiß nicht genau wohin mit den Sinnen, wenn sie spricht, Duras, wenn sie plötzlich lächelt, und das ist ein Wunder, was sich auftut im Gesicht der einundsiebzigjährigen Frau. Man schaut, man hört zu, und zum ersten Mal an diesem Abend hält man inne.

Aber schon sieht man eine andere Sequenz, ein anderes Dekor. Marguerite Yourcenar im Jahre 1979. Man sieht ein bewegtes Gesicht, man vernimmt die leicht singende, vornehme Stimme. Die Zeit zu hören, hat man nicht. Das geht nicht, nicht nach Duras.

Die Kamera dreht sich zur Tribüne, zeigt uniforme Gesichter, die sich kurzfristig beleben, wenn sie ihr Lieblingswort aussprechen, Zenit oder Nostalgie oder Reve.

Man vernimmt wieder einen Streit, Anfang der achtziger Jahre, in dem es wohl um China geht und um Leichen und um hundert Blumen. Man sieht einen Disput zehn Jahre später zwischen dem ehemals maoistischen Schriftsteller Philippe Sollers und dem Minister a.D. Alain Peyrefitte, in dem es, so scheint es, um China geht und um Leichen und nicht mehr um hundert Blumen.

Man sieht nicht Samuel Beckett, Henri Michaux, Rene Char, Michel Leiris, Jean-Paul Sartre, man sieht nicht Julien Gracq und auch nicht Jean Genet, denn sie kamen nicht zu Apostrophes. Sie blieben fern, bei ihrem Schreiben.

Man sieht die Schriftsteller nicht, die einmal kamen, und stotterten und erröteten oder stumm blieben. Man hört Lieblingsworte, die man sofort vergißt.

Dann sieht man Barthes, kurz vor seinem Tod, sein ruhiges Gesicht. Man schaut auf das unendlich Verletzbare, Erhabene dieses Gesichts. Barthes spricht über die Einsamkeit des liebenden Subjekts, das keine Sprache dafür findet, und es ist vielleicht eine Dankbarkeit, die man empfindet beim Anblick der Müdigkeit in seinen Augen. Man gewahrt, daß das Fernsehen die Gesichter im Verlauf der Zeit ändert, sie glättet, einebnet, ihnen die Menschlichkeit, die Male, das Fragile raubt, verbietet, man gewahrt es beim Ansehen des Gesichtes des Philosophen Raymond Aron, und es scheinen andere Zeiten zu sein, so seltsam nackt und schief und genügsam ist dieses Gesicht, ganz und gar auf das Denken und das Aussprechen der Gedanken konzentriert.

Man hört wieder Lieblingsworte, sieht erneut Sequenzen und Querellen. Man sieht Bernard Pivot, jung und pausbäckig, grauhaarig und nachdenklich, mit Strickjacke und Pantoffeln, mit Anzug. Man lacht manchmal, man runzelt die Stirn, man flucht, man langweilt sich - wie bei einem Tennisspiel oder bei Varietes. Man sieht Autoren auf einer Tribüne, subtil und salonfähig. Man sieht Autoren, die, so scheint es, Bücher schreiben, nicht damit sie gelesen werden, sondern damit sie in den Medien erscheinen. Man sieht Apostrophes, das Spiegelbild der heutigen französischen Intelligenzia, ihrer Selbstgefälligkeit, ihrer Klaustrophilie. Man wartet an diesem Abend ein letztes Mal auf die Literatur, die vor der Tür geblieben und doch nicht zu sehen ist, und ein letztes Mal hört man die Takte des ersten Klavierkonzerts von Rachmaninow.