Nach dem 1. Juli: Wie geht es in der DDR weiter?

■ Die ökonomischen und sozialen Folgen der Währungsumstellung abfangen

DOKUMENTATION

Von Rudolf Hickel

Das finanzpolitische Fundament des Staatsvertrags, das der mit 115 Milliarden über fünf Jahre zur Verfügung gestellte „Fonds Deutsche Einheit“ bildet, unterschätzt die Kosten der Anpassung durch die Einführung der DM-Mark. Deshalb überrascht es auch nicht, daß neben diesem Staatsvertrag mittlerweile eine zweite Auffanglinie entwickelt worden ist: Mittel für die Anschubfinanzierung der Arbeitslosen- und Rentenversicherung in einem zweiten Nachtragshaushalt des Bundes, Investitionszulagen, Aufstockung der Kreditmittel aus dem ERP-Sondervermögen, Zahlung von Kurzarbeitergeld sowie Kredite zur Liquiditätsüberbrückung sind Stichworte, die deutlich machen, daß bisher im Staatsvertrag die „Kosten der Einheit“ unterschätzt worden sind.

Bereits in den ersten Tagen nach der Einführung der D-Mark wird der weitere Finanzbedarf zur Abwehr einer sozialen Crash-Situation sichtbar. Nachdem im kommenden Jahr die gesamt deutsche Neuverschuldung auf über 100 Milliarden DM geschätzt wird, müssen erneut folgende Instrumente der öffentlichen Finanzierung der DDR-Sanierung diskutiert werden: Entschiedene Einsparungen im Verteidigungshaushalt und Umschichtung des Subventionshaushalt sowie sozial verträgliche und zeitlich beschränkte Steuererhöhungen. Um die schlimmsten Folgen der Währungsunion für die weitere wirtschaftliche Entwicklung abzufedern, sind in den folgenden Schwerpunkten Anpassungsmaßnahmen zu verwirklichen:

1. Aufbau einer effizienten, ökologischen Produktionsstruktur

Schätzungen gehen davon aus, daß bis zwei Drittel der Betriebe den Anpassungsschock durch die Öffnung für die internationale Konkurrenz nicht überleben werden. Deshalb ist einerseits genau zu überprüfen, welche Betriebe nach anfänglichen Anpassungshilfen überlebensfähig wären. Andererseits müssen Maßnahmen ergriffen werden, die den Aufbau einer der Bundesrepublik vergleichbaren Produktionsstruktur ermöglichen (produzierendes Gewerbe, private und öffentliche Dienstleistungen, aber auch Aufbau von kleinen und mittleren Unternehmen bzw. des Handwerks).

Nur wenn es gelingt, Produktionsaktivitäten in ausreichendem Ausmaß im Wirtschaftsgebiet der DDR zu sichern, können dort Einkommenskreisläufe - Produktion, Entstehung von Einkommen, konsumtive und investive Verausgabung - zustande kommen, in die freilich Import- und Exportbeziehungen einzubetten sind. In der Anpassungsphase sind innerhalb dieses Schwerpunkts die folgenden Maßnahmen erforderlich:

-Schnelle Liquiditätshilfen sind zu realisieren, um die Finanzierung der Löhne und Gehälter sowie Zulieferungen in den kommenden Monaten sicherzustellen.

-Die Zulagen für Sachinvestitionen in der DDR von zuerst zwölf Prozent weisen in die richtige Richtung, denn damit wird die Bereitschaft zum unternehmerischen Engagement bundesdeutscher und ausländischer Unternehmen gestärkt.

-Eine weitere Aufstockung der zinsgünstigen Kredite aus ERP -Mitteln ist erforderlich (derzeitiges Volumen: sechs Milliarden DM).

-Die derzeit nicht vorgesehenen Fördermaßnahmen für den ökologischen Umbau der Produktion sind dringend zu realisieren.

2. Materielle und ökologische Infrastruktur

Ein mittelfristiges Programm zum Aufbau einer Infrastruktur (Telekommunikation, Energieversorgung und Verkehr) muß konzipiert und realisiert werden. Ein Sonderprogramm „Ökologische Altlastensanierung“, dessen Finanzierung festzulegen ist, muß entwickelt werden. Die derzeitigen Altlasten im Umfeld der Unternehmen stellen eines der gegenwärtigen Investitionshemmnisse für bundesdeutsche und ausländische Unternehmen dar.

3. Arbeitsmarktförderpolitik und Arbeitslosenversicherung

Nach längerer Bagatellisierung ist es mittlerweile unbestritten, daß in einer längeren Anpassungsphase mit einem deutlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit zu rechnen ist. Neuere Schätzungen gehen für die nächsten Monate von einer potentiellen Zahl der Arbeitslosen in Höhe von 1,5 bis zwei Millionen aus. Ob diese Arbeitslosenzahl auch statistisch sichtbar wird, hängt vom Ausmaß arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen ab. In diesem Schwerpunkt müssen die folgenden Instrumente zum Einsatz kommen:

-Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik dienen dem Zweck, potentiell betroffene Arbeitslose nicht zu entlassen, sondern diese auf der Basis von Kurzarbeitergeld und anderen Finanzierungsinstrumenten zu qualifizieren.

-In den nächsten Wochen wird es angesichts steigender Arbeitslosigkeit darauf ankommen, ausreichend Mittel für die Zahlung von Arbeitslosengeld zur Verfügung zu stellen.

-Aufgebaut werden muß ein Sozialhilfesystem, das dann eintritt, wenn die Existenzsicherung durch andere Einkommen nicht gegeben ist.

4. Eine neue bundesdeutsche Strukturpolitik

Soweit sich die investive und konsumtive Nachfrage aus dem Wirtschaftsgebiet der DDR auf die bundesrepublikanische Wirtschaft konzentriert, drohen Inflationsgefahren. Denn trotz technologisch bedingter Flexibilitäten stößt diese Nachfrage auf eine starke Auslastung der Prouktionskapazitäten. Steigende Inflationserwartungen müßten zum weiteren Anstieg der Zinssätze führen. Die Deutsche Bundesbank wird spätestens bei einer sich auf über drei Prozent einpendelnden Inflationsrate eine restriktive Geldpolitik fahren.

Dabei wirken die derzeit hohen Zinssätze im langfristigen Bereich, die seit dem Herbst letzten Jahres um ungefähr 1,5 auf neun Prozent gestiegen sind, ohnehin schon konjunkturdämpfend, denn die Fremdfinanzierungskosten volkswirtschaftlicher Nachfrage fallen hoch aus. Eine aktiv betriebene, antiinflationäre Bremspolitik der Deutschen Bundesbank könnte unter bestimmten Bedingungen durchaus zum konjunkurellen Einbruch (Rezession) führen. Wie ernst die Bundesbank diese geldpolitische Option nimmt, zeigt ihr Hinweis im Juni-Monatsbericht, demzufolge sie nicht mehr bereit ist, eine Überschreitung der 1991 mit 100 Milliarden DM angenommenen Neuverschuldung aller Gebietskörperschaften zu akzeptieren.

Das aufflackernde Inflationsproblem ließe sich jedoch durch eine Nutzung der außenwirtschaftlichen Reserve minimieren: Hinreichend steigende Importe, die über die BRD in die DDR geschleust werden, sowie eine Umlenkung eines Teils der bisherigen Exporte zur Bedienung der Nachfrage aus der DDR würden einerseits den inflationsverdächtigen Nachfragedruck verringern. Andererseits könnte zugleich ein Beitrag zum Abbau des bisher anhaltend hohen Wartenexportüberschusses geleistet werden.

Rudolf Hickel ist Politökonom, Professor an der Universität Bremen und Mitglied der „Memorandum-Gruppe“, die alternative Wirtschaftskonzepte entwickelt. Der vorliegende Text ist gekürzt.