Zukunft ohne Rot-Grün?

■ Die Koalition in West-Berlin ist am Ende

GASTKOMMENTARE

In Berlin verdichten sich Informationen, nach denen die rot -grüne Koalition spätestens am kommenden Donnerstag auseinandergeht. Wenn das so geschehen sollte, werden sich die beiden Parteien sagen lassen müssen, daß sie in ihrer praktischen Politik weit hinter ihren Möglichkeiten zurückgeblieben sind, daß in ihrem gegenwärtigen Streit nicht ein Funke einer glaubwürdigen Kontroverse über die Zukunft Berlins sichtbar wird.

Sind es Erschöpfungszustände, die nach der verrücktesten Politikphase der Nachkriegszeit nur zu verständlich wären? Schließlich sind in den vergangenen acht Monaten viele Ideologien und Strategien in rasantem Tempo entwertet und wie selten zuvor auf allen Seiten Ohnmachts- und Hilflosigkeitserfahrungen gemacht worden. Daß dabei die bisher selbstbewußte Berliner Landespolitik auf ihre totale Abhängigkeit von Bonn verwiesen wurde und der eigene Handlungsspielraum in die Nähe von null geraten ist, hat den Frust auf allen Seiten nur bestärkt. Oder ist alles nur Wahlkampf?

Trotzdem ist es unverständlich, warum eine eben noch mit Bürgernähe werbende SPD ihr neues Heil plötzlich bei einem unvermittelten Neozentralismus sucht, über dessen Überheblichkeit selbst die Kinder des Honecker-Desasters täglich den Kopf schütteln. Sind die Zukunftsfragen der Stadt denn tatsächlich nur hinter dem Rücken der Bürger und mit Ergebenheitsadressen an die Bundesregierung, die Großkonzerne und andere Überorganisationen wie das Olympische Komitee zu lösen? Ebenso unverständlich sind natürlich auch die Ost-West-Berührungsängste der AL. Daß eine Partei, die sich auf ihre Diskussionskultur soviel einbildet, in acht Monaten nicht eine einzige öffentliche Diskussion zum Zusammenwachsen Berlins zustande bringt, ist eine phänomenale Lähmung.

Dabei hätte der Streit zwischen SPD und AL Perspektive und Charakter,

-wenn man sich, für alle Bürger nachvollziehbar, über die Chancen und Risiken des zentralistischen oder basisdemokratischen Weges zum Zusammenwachsen beider Stadthälften auseinandersetzen würde. Über die Weiterentwicklung der Runden-Tisch-Idee für Gesamt-Berlin zum Beispiel. Oder:

-wenn man sich über einen Spar-Etat entzweien würde, dessen Einsparungen Ost-Berlin zugute kommen sollen. Oder:

-wenn man im Ansatz ein eigenes Programm gegen Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot in beiden Teilen der Stadt entwickelt hätte und über dessen Ausgestaltung nicht einig würde.

Das wäre zeitgemäß und zukunftsbezogen. Aber nichts dergleichen hat stattgefunden. Was jetzt auf dem Tisch zwischen SPD und AL als angeblich Unverdauliches liegt, sind symbolische Konzentrate, aus denen Insider politische Projektionen destillieren, die jedoch von den Alltagsinteressen der Mehrheitsbevölkerung weit entfernt sind. Die Probleme der nächsten Jahre sind inzwischen beschreibbar. Es ist an der Zeit, dazu politische Antworten zu formulieren. Soll Rot-Schwarz wirklich die einzige Antwort für die anstehenden Aufgaben sein?

Wulf Eichstädt

Der Autor ist Architekt und Stadtplaner in West-Berlin