Soweit ist es noch nicht: „Noch leben wir...“

■ Düstere Aussichten der Glühlampenfabrik Narva nach Einführung der D-Mark / Ein Viertel der Leute soll gehen / Forderungen nach Lohnerhöhungen sind kaum erfüllbar / Alte Stammfirma Osram ist nur am Grundstück interessiert

Aus Berlin A.Smoltczyk

Das Telefon in der Empfangshalle will nicht so recht. Kaputt? Nein, nein: „Schön zart behandeln - denn jeht et!“, erklärt der Betriebsveteran mit Wachschutzmütze, und er hat recht. Wir bekommen Anschluß und einen Termin bei Frau Dr.Müller, der „Direktorin für Controlling“. Heißt eben alles etwas anders, seit „Narva - Berliner Glühlampenwerke“ nicht mehr volkseigen sind. Auch das „Rosa Luxemburg“ steht nur noch über dem Werkstor unten am Spreehafen, nicht mehr auf dem Briefkopf. Nur die Galerie „unserer Besten“ in der Empfangshalle ist geblieben und auch jene nachgedunkelten Leuchtrauten, auf denen von Narvas Ruhm gekündet wird: Marx -Engels-Allee, Alexanderplatz, Republikpalast - überall, wo es in der DDR leuchtete, strahlte oder glomm, war Narva am Werk, Narva, das Monopol der Aufklärung im Arbeiter- und Bauernstaat.

Doch die Aussichten sind düster geworden seit dem 1.Juli. Direktorin Dr.Müller, eine kleine rothaarige Frau in schmucklosem Büro, ist seit Monaten und quasi rund um die Uhr damit beschäftigt, dem Systemwechsel buchhalterische Form zu geben. Ihre größte Sorge sind die Löhne. Denn die werden am 20.Juli im Verhältnis 1:1 ausgezahlt werden müssen, während Narvas gesamtes Bargeldguthaben laut Staatsvertrag nur mit 1:2 veranschlagt wird. „Die Liquiditätslage ist angespannt“ - zuerst verspricht sich Frau Dr.Müller, sagt „Liquidationslage“. Aber soweit ist es noch nicht, „noch leben wir“, meint sie.

Die Richtlinien der Treuhand-Anstalt, die das „Volk“ als Eigentümerin des Narva-Kombinats ersetzte, erlaubten ihrem Berliner Glühlampenwerk, einen „Liquiditätshilfekredit“ zu beantragen, der vom Staat gegenüber den Banken garantiert wird. Drei Monate lang geht das noch - dann wird, mit der ersten DM-Bilanz, die Stunde der Wahrheit schlagen.

Bisher stehen die bitter-wahren Zahlen nur handgeschrieben im abgegriffenen Quartheft Frau Dr.Müllers. Eine Narva -Standardbirne, 60 Watt („Licht nach Maß“ lautet die Werbung), wird auf den Exportmärkten für 20 Pfennig angeboten. In der Produktion kostet sie 98 Pfennig, die Differenz zahlte „früher“ der devisenhungrige Staat. Doch der wolle nun „keine Gartenzäune mehr, sondern möchte die volle Wucht der Marktwirtschaft auf uns loslassen“, wie Frau Müller mit einem unergründlichen Lächeln bemerkt. Kein Pfenning Subventionen mehr. Schön zart behandelt, damit „et jeht“, wird in der DDR gar nichts mehr.

So bringt ausgerechnet der Export, etwa 30 Prozent des Umsatzes, die Verluste. Zumal die 20-Pfennig-Verträge noch bis 1991 festgeschrieben sind. Und die jährlich zwei Millionen Narva-Hochdruckbirnen, mit denen die Sowjetunion ihre Großbaustellen beleuchtet, werden erst ab Januar in Devisen bezahlt - theoretisch zumindest. Nur auf dem DDR -Markt kommt Narva noch auf ihre Kosten. Aber auch das wird sich ändern, fürchtet die Direktorin, wenn jetzt Osram, die alte Stammfirma, mit Narvas Birnen konkurriert: „Narva -Preise will keiner mehr bezahlen.“ Ihre einzige Hoffnung ist, daß die Materiallieferanten jetzt auch billiger werden. Aber ob das reicht? „Dabei arbeiten wir gut, sehen sie nur die Hochdrucklampen, die beleuchten die ganze Baikal-Amur -Magistrale“, sagt Frau Müller und blickt auf die als technisches Denkmal eingetragenen Ziegelmauern des Narva -Werks.

Abbau des „Überflüssigen“

Unten auf dem Hof ziehen zwei Männer einen Karren über das Pflaster. Geladen haben sie den Rumpf eines Bürostuhls. „Alle Prozesse müssen auf ihre Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit geprüft werden. Das ist unsere einzige Chance. Ein wesentlicher Arbeitsplätzeabbau ist notwendig“, meint Frau Dr.Müller. Von den 4.826 Beschäftigten sollen laut dem hektographierten Sanierungskonzept, das auf ihrem Schreibtisch liegt, bis zum Jahresende 1.266 Mitarbeiter entlassen werden. Teils werden sie in Rente oder Vorruhestand geschickt, teils nach einem komplizierten Schlüssel abgefunden. Ein „Arbeitskräftelenkungs-Rat“, zusammengesetzt aus verschiedenen Fachbereichen, ist jetzt dabei zu bestimmen, welcher Job überflüssig ist. Alles, was nicht zur Hauptproduktion gehört, kommt weg: Theaterleuchtenproduktion, Schwingquarze - und der betriebseigene Kinderhort. Sieben von elf Direktoraten im Stammbetrieb des ehemaligen Kombinats wurden bereits abgeschafft.

Am Dienstag hat es den ersten Warnstreik gegeben bei Narva. Die IG-Metall ginge „einseitig“ an die Sache ran, sagt Frau Dr.Müller, man könne doch nicht blauäugig 400 Mark mehr verlangen. Doch der naßforsche Tonfall westlicher Unternehmerschaft hat sich in Narvas Ziegelmauern noch nicht eingebürgert: „Dabei sind die Forderungen berechtigt. Wir zahlen vielleicht gerade mal ein Drittel des vergleichbaren Lohns im Westen. Ist ja kein Leben und kein Sterben, was auf uns zukommt.“ Auch eine Direktorin für Controlling muß zum Einkaufen in die HO, wo die Preise auch nicht mehr volkseigen sind.

Vor der Spätschicht begrüßen sich die Leute seit neuestem mit einem „Durchhalten “ oder fragen: „Na, haste deine Arbeet noch?“ Narva sitzt seit 1904 auf dem Areal zwischen Osthafen und S-Bahnhof Warschauer Straße. Die Stammbelegschaft ist alt, arbeitet meist schon seit zehn, zwanzig Jahren hier, viele wohnen in den Betriebswohnhäusern. Ein bärtiger Ingenieur stellt sich mit Norbert vor: „Eine Knautschstimmung herrscht unter den Kollegen, die hoffen, daß die Sesselfurzer von der Verwaltung sich was einfallen lassen. Aber im zweiten Quartal gab's doch keinerlei Bestellungen... Naja, ich habe mich schon mal drüben umgeguckt. Wir essen schon kein Mittag mehr. Sparsamer kann man nicht leben.“ In der Eckkneipe vorm Werkseingang Rotherstraße meint Wirtin Helga, die gestern nur 160 D-Mark Umsatz machte: „Sacht mir bescheid, wenn's nächste Woche keene Spätschicht mehr jibt. Dann kann ick früha zumachen.“ Osram, so erzählt man sich im Betrieb, habe nur Interesse an Grund und Boden, nicht an Narva - „die warten, bis wir bankrott sind.“ Frau Dr.Müller macht Überstunden. Schreibt Zahlen in ihr Quartheft, ackert sich durch die elf Bände der „Wirtschaftsbriefe“, die im Regal thronen und von nun an bei Narva das Gesetz machen. Leuchtmittelsteuer, Wettbewerbsrecht, Abschreibungsmöglichkeiten... Die 1001 Gebote der neuen Zeit. Alles muß sie beherrschen bis zum 1.Januar, wenn die neue Steuergesetzgebung eingeführt wird. Ob es Narva dann noch geben wird? Aber vielleicht zahlen die Sowjets ja noch etwas länger für ihre Hochdrucklampen, vielleicht nützt der neue glänzende Katalog etwas, läßt der Ansturm Osrams noch etwas auf sich warten. Vielleicht „jeht et“, wenn man „et janz zart anfaßt“. Aber danach sind diese Zeiten wohl nicht mehr.