Das grenzenlose Schuldenproblem

■ Ost-West-Arbeitskreis Schuldnerberatung der Verbraucherzentralen wurde gebildet / Noch keine „deutliche Überschuldung bei DDR-Bürgern“ festzustellen / Verbraucherschutzgesetz in der DDR offen

Berlin. „Menschen mit akuter Überschuldung waren noch nicht bei uns, aber wir wollen prophylaktisch auf die Gefahr der Überschuldung hinweisen“, so Ruth Leichsenring vom Hilfswerk der evangelischen Kirche in Ost-Berlin. Auf der Pressekonferenz des grenzüberschreitenden Arbeitskreises Schuldnerberatung wurden erste Erfahrungen und Perspektiven bei der Kreditvermittlung in der DDR dargestellt. „Die Versuchungen sind genauso groß wie die Unerfahrenheit“, so Leichsenring. „Wir sind im Augenblick alle noch Lernende.“ Im Arbeitskreis, einem Zusammenschluß von mehreren Ost- und West-Beratungsstellen, lernen auch die Verbraucherberater Ost von ihren Kollegen West.

Bisher gab es in der DDR nur „streng zweckgebundene Kredite für langlebige Konsumgüter mit Zinssätzen zwischen null und sechs Prozent“, so Ernst Ungerer von der Verbraucherzentrale Berlin West. Heute erfüllen etablierte Banken genauso wie dubiose Kreditvermittler und Leasinghändler mit scheinbarer Leichtigkeit den Wunsch nach dem Westauto oder dem Farbfernseher. Teilweise liegen die effektiven Jahreszinsen knapp 10 Prozentpunkte auseinander. Hauptprobleme bei den langfristigen Kreditverträgen sind Risiken wie Arbeitslosigkeit, Ehescheidung oder Schwangerschaft. Werden dann zwei Raten nicht bezahlt, kündigt der Kreditgeber in der Regel den Vertrag, und die Gesamtsumme sowie Zinsen und Nebenkosten sind sofort fällig, berichtet Erich Klein aus seinen Erfahrungen im Diakonischen Werk in West-Berlin. Häufig könnten dann von den letzten D-Märkern nicht mal mehr die Zinsen gezahlt werden, so das die Kreditsumme weiter ansteigt.

Diese Regelung, daß bei Finanznot zunächst die Zinsen und dann erst die eigentliche Kreditsumme getilgt werden, wird in der Bundesrepublik möglicherweise bald geändert. Eine entsprechende Gesetzesvorlage wird zur Zeit im Bundestag beraten. Doch die Hauptforderung der Verbraucherzentrale, so Ungerer, daß die „Kündigung von Kreditverträgen sozialverträglich“ geregelt werden soll, wird wahrscheinlich nicht erfüllt. Inwieweit die Verbraucherschutzgesetze auch umgehend in der DDR eingeführt werden, ist noch offen. Bei Versicherungsgeschäften an der Haustür ist man in der DDR allerdings weiter als in der BRD: Dem DDR-Bürger steht bei Versicherungen genauso wie bei allen anderen Haustürgeschäften ein Widerrufsrecht innerhalb einer Woche zu.

Ganz gegen die Verschuldung wollten sich die VerbraucherberaterInnen auf der Pressekonferenz nicht aussprechen: „Wir wollen nicht mit dem Zeigefinger arbeiten, sondern den Leuten beibringen, die Situation realistisch einzuschätzen“, so Gerald Günther vom Verbraucherzentrum Berlin Ost. „Verschuldung ist ein essentieller Bestandteil der Marktwirtschaft und somit auch der DDR.“

Beratung vor und nach der Kreditaufnahme gibt's unter anderem im Verbraucherzentrum Berlin Ost (5882014) und in der Verbraucherzentrale Berlin West (219070). Der Arbeitskreis Neue Armut (West-Berlin, Tel.: 6249032) hat unter dem Titel Ich habe für SIE... . Kredite, Zinsen, Kosten Kreditanzeigen und deren Hintergründe dokumentiert.

Rochus Görgen