Die Sprache der Alma Mater

 ■ Diskursanalysen zur Institution Universität

Von Ina Hartwig

Warum ist die Universität eine Institution? Weil man in ihr nicht alles und nicht auf jede Weise sagen darf. Warum darf man das nicht? Weil Regeln nur bestimmte Reden in der Universität zulassen: nämlich die Reden von Studenten, Promovenden und Professoren. Daß, beispielsweise, die Reden von Verrückten, von Schwärmern und von Einsamen an den Universitäten unerwünscht sind, hat jeder schon einmal erfahren, der einer öffentlichen Ringvorlesung zugehört hat. Dort nämlich, wo Volk und Uni sich vermischen (sollen), schleichen sich immer einige ein, deren Monologe gewöhnlich ins Leere gehen. Sie warten auf ihren großen Auftritt in der Diskussion danach. Die Reaktion des Publikums auf diese „Diskussionsbeiträge“, Amüsement und Ungeduld, zeigen wie ein Seismograph an, was wie nicht gesagt werden darf in der Universität.

Wie aber sind die Reden beschaffen, die in den Universitäten erlaubt sind? Welchen Regeln gehorchen sie, und welche sozialen und historischen Bedingungen haben sie hervorgebracht? Auf welche Macht und welches Begehren sind diese Reden zurückzuführen? Das sind die leitenden Fragen des zweiten Bandes einer Buchreihe mit dem Titel Diskursanalysen, sein Thema dieses Mal: die Institution Universität (im ersten Band, 1987, ging es um Medien). Die Herausgeber, zwei Bundesdeutsche und ein Amerikaner, allesamt Professoren der Literaturwissenschaft, geben sich als kritische Insider der Machtverhältnisse: Friedrich Kittler, Manfred Schneider und Samuel Weber. Daß Diskurse nicht unschuldig sind, sondern Redeereignisse, in denen Macht und Begehren sich ordnen: diese Grundannahme über die Natur menschlicher Reden übernehmen die Herausgeber explizit von Michel Foucault, dem Urheber der Diskursanalyse. Gelernt haben sie aber auch von den Lehrbüchern der Computerindustrie: „(Außer) Hardware und Personal liefert der Staat Programme, nach denen Universitäten ihre Wahrheit prozessieren“ (Kittler/Schneider). Mit anderen Worten: Da der Staat Computer, Beamte und Prüfungsordnungen bestellt, einstellt und erläßt, ist die Universität eben nicht ohne diesen Staat - und seine Interessen, etwa Forschungsaufträge in Gentechnik und Rüstung - vorstellbar. Und genau diesem Zusammenhang („Zusammenspiel“) von staatlicher Macht und „institutioneller Programmierung des Wissens“ wollen die in diesem Band versammelten Aufsätze - laut „Editorial“ nachgehen.

Der Verfasser der neuen Aufsätze und des Schlußgedichts (etwas peinlich) sind aus allen universitären Ständen rekrutiert: vom Studenten bis zur Professorenberühmtheit (Derrida). Doch die Komplexität, die den in drei Themengruppen angeordneten Aufsätzen im „Editorial“ (das Programm des Buchs) nachgesagt wird, stellt sich am Ende der Lektüre nicht ein. Hier ist ein Anfang gemacht. Zuerst werden Fragen der Repräsentation und des Unterrichtens, also des Entstehens von Pädagogiken, anhand einiger „Bildungsreformen“ zwischen dem 17. und 19.Jahrhundert diskutiert. Eine zweite Themengruppe beschäftigt sich mit der Verschaltung der zwei Institutionen Psychoanalyse und Universität am Ende des 19.Jahrhunderts. Schließlich, drittens, wird die Veränderung des universitären Selbstverständnisses durch neue Technologien (Computerisierung) skizziert.

Da die Diskursanalyse Redeverhältnisse grundsätzlich als Machtverhältnisse versteht, fragt sie nach dem Imaginären der Macht genauso wie nach der Macht des Imaginären. Zwei Beispiele: „Meine Damen und Herren!“ Als Professor Sigmund Freud die Zuhörinnen und Zuhörer seiner „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“ im Wintersemester 1915/16 in der Wiener psychiatrischen Fakultät mit dieser Anrede begrüßt, waren das die Nachklänge einer Revolution. Daß Frauen im Hörsaal einer Universität saßen, besonders wenn es, wie bei Freud selbstverständlich, um Sexualität ging, war noch nicht lange erlaubt. Erst seit 1900 durfte eine Frau in Österreich Medizin studieren (seit 1908 in Preußen). Rose-Maria Gropp, der Sprache nach eine Kittler-Schülerin, analysiert das miefige Begehren männlicher Akademiker am Ende des Jahrhunderts, keine Kolleginnen zu haben. Ein Professor von Waldayer fürchtet, daß mit dem Frauenstudium die kulturspendende Geschlechterdifferenz flöten ginge; er bangt also um nichts anderes als sein Frauenbild. Zu Recht. Denn als die Frauen erst einmal studierten, wollten sie nicht mehr zurück zum Strickzeug. Aufregend ist aber vor allem Gropps Beobachtung, daß die wissenshungrigen Frauen am Anfang des Jahrhunderts ihrerseits eine „Geschlechterdifferenz“ aufgestellt haben: Sie wollten anders sein als die nichtstudierenden Frauen. Auch ein universitäres Begehren, diesmal (erstmals) weiblich.

„Meine Damen und Herren!“ Auch Friedrich Kittler und Manfred Schneider zitierten Freud in ihrem gemeinsam verfaßten Ausatz, jedoch nicht, um das Imaginäre seiner Zuhörerinnen zu befragen, sondern um Freuds eigenem Begehren auf die Spur zu kommen. Das tun sie mit einem alten Trick: Sie messen ihn an seinem eigenen Anspruch. Der Entdecker des Unbewußten forderte, die Dinge - besonders die sexuellen Dinge - bei ihren Namen zu nennen, das heißt bei ihren technischen, lateinischen Namen. Was Freud allerdings nicht beim Namen genannt hat, war sein schon früh gehegter Ehrgeiz, ein berühmter Professor zu werden. Freuds „Professorenträume“ - sie erfüllen sich erst 1902, nach der Intervention von zwei ehemaligen Patientinnen bei dem entsprechenden Minister - deuten Kittler/Schneider im Zusammenhang mit einem weitverzweigten Netz, einem Netz, in dem Größenwünsche, Scham und Anerkennung, aber auch Mutterwünsche, Psychoanalyse und Universität fruchtbar ineinander verhakt sind.

Für ihren feministischen Scharfsinn sollte Alice Schwarzer den Autoren Blumen zukommen lassen: „Daß ... die Lehre Freuds nicht nur ... vom unbewußten Wissen der Hysterikerinnen auf seiner Couch ausging, sondern auch wieder zu angehenden Analytikerinnen in Hörsälen und Lehranalysen zurückkehren durfte, war ein diskursives Ereignis.“ Und: „Genau das trennt den psychoanalytischen Diskurs vom universitären, dessen Magister und Buben immer nur eine stumme Alma Mater umtanzt hatten.“

Heute, wo man in manchen germanistischen Seminaren die Bartstoppeln eines Kommilitonen schon mühevoll suchen muß, ist die Institution Universität augenscheinlich anders vernetzt als zu Freuds Zeiten. Was Cheryce Kramer und Helmut Müller-Sievers in ihrem Aufsatz über die Computerisierung der Universität Stanford (USA) berichten, klingt noch nicht nach europäischen Verhältnissen, liegt aber im Bereich unserer Vorstellungen. Die „Verschaltung von Professorenmündern und Studentenohren“, jene altbekannte Technik des universitären Unterrichts, scheint dort im Verschwinden begriffen zu sein: „Viele Seminare, vor allem in Computer-science, werden nur noch über Computer unterrichtet.“ Auch daß die Universitäten ihr Wissen (Seminare auf Videokassette) an Firmen und Anwaltbüros verkaufen, damit die ihre Mitarbeiter schulen können, ist mittlerweile üblich. Diese Außen- und Binnenverkabelung verführt die Herausgeber dann auch dazu, in ihrem „Editorial“ das Ende der Bücher, der Professoren und demnächst der Institution Universität selbst zu prophezeien. Daß sie das wünschen, mag man allerdings nicht glauben.

Solche „sorglosen“ Prophezeiungen lassen einen aber ahnen, warum die Diskursanalyse in der bundesdeutschen Universitätsszene nur mit äußerstem Mißtrauen wahrgenommen wird, gilt sie als dekadent - und postmodern. Was als Spiel und Provokation gemeint ist, wird entweder nicht verstanden oder verteufelt. Die Diskursanalyse beschwöre das Ende des Subjekts herauf, sie sei „gefährlich“, murmelt mancher Professor ins Mikrophon. (Dabei sagt sie nur, daß die Bedingungen, die das Subjekt hervorbringen, sich ändern.) Aber seit dem November 1989, den die Aufsätze dieses Bandes übrigens noch nicht berücksichtigen (ich wäre gespannt auf eine Diskursanalyse der Universitäten der DDR), atmen jene ängstlichen Professoren wahrscheinlich ohnehin auf: daß die im Osten noch keine Computernetzwerke haben, könnte ja bedeuten, daß uns das Ende der Universitäten erspart bleibt.

F.A.Kittler, M.Schneider, S.Weber (Hrsg.): Diskursanalysen 2, Institution Universität, Opladen (Westdeutscher Verlag) 1990, 179 S., 39,50 DM