Linke Wendehälse - im Westen

■ „Sie hassen sich selbst“ - Über West-Intellektuelle und ihre Geschichte

TAZ-DEBATTE UM DIE DDR-IDENTITÄT

Geschwindigkeit ist ein Wort, das neuerdings zum politischen Jargon gehört. Politiker streiten nicht mehr darüber, ob ihre Politik richtig oder falsch sondern ob sie zu schnell oder zu langsam ist. Die Geschwindigkeit befördert alles, auch die Vergeßlichkeit.

Vor einigen Monaten war noch die Rede von den Wendehälsen. Ein vergessenes Wort. De Maiziere gilt heute als seriös. Wenn die Kostgänger des Stalinismus, (Ost-)CDU, LDP und NDPD ohne Reibungsverluste in (West-)CDU und FDP übergehen, entdecken nur noch ein paar DDR-Oppositionelle die Affinität von Herrschaftsstrukturen und klagen eine Parlamentarismus -Kritik ein.

An diese Wende auch der Wende sollte erinnert werden. Und aufmerksam sollte darauf gemacht werden, daß es in der West -Linken ebenfalls Wendehälse gibt. Ich meine einen Denktypus, dem es offenbar schon immer an Realitätstüchtigkeit gemangelt hat, der die Widersprüche der Welt ebensowenig auszuhalten vermag wie seine eigenen, und der deshalb eine Heilslehre nötig hat, die ihm eine glückliche, von allen Widersprüchen befreite Wirklichkeit verspricht. Menschen, die Götter brauchen. Es gibt Leute, die immer hundertprozentig sind. Manche von ihnen waren noch in den siebziger Jahren stramme Stalinisten und verkündeten das kommunistische Paradies. Jetzt sind sie glühende Verehrer der Marktwirtschaft. (Das Wort Kapitalismus kommt ihnen nicht mehr über die Lippen.) Ihre Kontinuität ist die Verkündigung. Und man darf sich fragen, welches Heil sie in ein paar Jahren auf uns herunterfahren sehen. Man sollte in den Schriften der kritischen Theorie nachblättern und noch einmal lesen, was dort über die autoritäre Persönlichkeit geschrieben wurde, um diesen Typus zu begreifen.

Der etablierte, zeitgeistwendige Journalismus macht mit, nicht so radikal (denn Stalinisten gibt es in dieser Branche nicht), sondern moderat und in hohen Auflagen. Nach der Wahl der DDR, als vielen Linken das blanke Entsetzen in den Augen stand, plädierte Hellmuth Karasek im 'Spiegel‘ für eine neue Sichtweise der Dinge: Die Menschen, die die Einheit Deutschlands wollten, seien „gesunde Egoisten“, man sollte sie „preisen“ (13/1990). „Die Linken entdecken das Prinzip Eigennutz“, kommentierte Reinhard Merkel in der 'Zeit‘ sarkastisch Karaseks Huldigung an die Deutschland-einig -Vaterland-Stimmung. „Jede Stunde sterben 1.500 Kinder an Hunger; jeden Monat erhöht das Weltwirtschaftssystem die 1.500 Milliarden Dollar Schulden der Dritten Welt um weitere 7,5 Milliarden. Wenn es wahr ist, daß allein dem westlich -kapitalistischen System des 'gesunden Eingennutzes‘, das an diesem Szenario kräftig beteilgt ist, die Zukunft gehört, dann könnte sie der Menschheit als letzte große Aufgabe die des anständigen Untergangs stellen. Und noch diese wäre eine moralische“ (14/1990).

Nun hat die linke Wende auch die taz erwischt. Wolfgang Kil aus der DDR beklagt seine Erfahrungen mit Linken aus der BRD (29.6.1990). Er beobachtet bei ihnen eine „hegemoniale Herablassung“. Sie stellen „das Recht auf die eigene Geschichte, auf eigene Lebenserfahrung“ der DDR-Opposition in Frage, und er sieht darin einen „Generalangriff auf die Identität einer sozialen Gemeinschaft“. „Gibt es eine 'geistige Kolonisierung‘ der DDR?“ fragt er.

Den Versuch gibt es. Wer sich an Diskussionen zwischen Ost und West-Linken beteiligt hat, der kennt die Respektlosigkeit, die selbstgefällige Herablassung, das freundliche Schulterklopfen, diesen unwürdigen Gestus, mit dem der DDR-Opposition erklärt wird, was sie ist, wo sie steht und wo es langgeht. Die Erklärung dafür ist einfach: Die DDR war für die West-Linken nie die DDR, sondern immer nur Projektionsfläche für die eigenen Weltanschauungen. Den DKPisten mußte sie als Beweis für die Überlegenheit des „realen Sozialismus“ herhalten, den Maoisten als Beweis für die „Restauration des Kapitalismus“. Immer war die DDR alles mögliche, nur eines nicht: die DDR. Und den gewendeten Linken dient sie jetzt für einen neuen Beweis: daß es sie eigentlich gar nicht gab. Daß sie nur Müll war, der nun endgelagert werden kann. Es „wäre zu wünschen, daß von alledem möglichst wenig, möglichst gar nichts verbliebe.“

Dies schreibt Anna Jonas in der taz als Antwort auf Wolfgang Kil (3. 7. 1990). Ihre Polemik ist in einem auffallend denunziatorischen Stil verfaßt („Kil & Co“, „die Kils & Co“), der auf den ersten Blick so gar nicht zum Anlaß paßt, denn Wolfgang Kil tut nichts anderes, als das „Recht auf den selbstbestimmten Umgang mit der eigenen Herkunft“ zu reklamieren - was Anna Jonas wiederum „Habsucht“ nennt und damit ungewollt Kils Befürchtung bestätigt: Wer anderen das Selbstbestimmungsrecht nehmen will, der will sie in der Tat kolonisieren.

Es geht auch in dieser Polemik um die noch längst nicht beantwortete Frage nach der Identität der DDR. Kil richtet sie ausdrücklich an die Gesellschaft und stellt sie nicht als Staatsproblem. Für die DDR-Opposition begann sich aus dem Widerspruch zu Partei und Staat eine Identität zu entwickeln - just im Augenblick des Untergangs der DDR. Ich meine die kurze Phase des Runden Tisches, in der der Versuch einer gesellschaftlichen Selbstbestimmung unternommen wurde, in der republikanische Traditionen zurückkehrten, von denen so manche West-Linken nur noch in melancholischen Tagträumen eingeholt werden. Ich meine jene kurze Spanne zwischen den Parolen „Wir sind das Volk!“ und „Wir sind ein Volk!“. Aber auch davon ist schon heute nicht mehr die Rede, und die linken Wendehälse haben an der Verdrängung kräftig mitgewirkt.

Mich entsetzt die Bedenkenlosigkeit, mit der Linke zentrale Katergorien ihrer Gesellschaftskritik, überhaupt das Denken in Widersprüchen wie einen durchlöcherten Regenschirm in die Ecke stellen und plötzlich von der pluralistischen Demokratie schwärmen, als hätte es nie eine Parlamentarismuskritik gegeben, als hätten sie nie Max Weber gelesen (nicht mal den!), als wären Entfremdung, Warencharakter und Tauschwert nur Karten in einem Spiel, zu dem sie einfach keine Lust mehr haben. Schlimmer noch: als hätten sie es nie gespielt. Zu ihrer eigenen Geschichte verhalten sie sich mit derselben Abwehr, die sie nun von den „Kils & Co“ verlangen.

„Was tun?“ fragt Anna Jonas und antwortet: „Statt Strafe oder gar Rache: ein paar Jahre Enthaltsamkeit von politischen Ämtern und offiziellen Funktionen und Positionen, jedenfalls all der Chargen aus den ersten, zweiten und dritten Gliedern, und vielleicht ein paar Jahre mitten rein in die Produktion ... Getreu dem deutschen Sprichwort, es gibt keine besseren Demokraten als einen bekehrten Renegaten, könnte das ja mal gutgehen, vielleicht...“ Ich habe keine Vorstellung davon, wie die Entstalinisierung praktisch verlaufen könnte. Ich fürchte, sie wird ein ähnliches Ergebnis haben wie bei uns die Entnazifizierung. Aber ich weiß, daß „Umerziehung in der Produktion“ eine kommunistische Erfindung ist. Und ich bin überzeugt: Wären alle Chargen bis ins dritte Glied politisch enthaltsam, gäbe es in der DDR keine CDU mehr, keine FDP und DSU.

Renegaten sind nicht die besseren Demokraten, weil sie ihre Geschichte nicht verarbeitet haben. Distanzierung treibt sie, und im Bemühen um gesellschaftliche Anerkennung werden sie päpstlicher als der Papst. So bleiben sie immer noch ein Stück dessen, von dem sie sich abgewendet haben. Sie kommen nicht los. Sie hassen die Utopie, weil sie ihr Versprechen nicht eingelöst hat und hassen sich selbst, weil sie an das Versprechen geglaubt haben. Sie bleiben Fleisch vom Fleische, fallen von dem einen Glauben ab und unterwerfen sich dem nächsten. Zum „selbstbestimmten Umgang mit der eigene Herkunft“ kommen sie nicht, solange Abwehr und nicht Verarbeitung ihr Verhältnis zur Geschichte bestimmt. Wolfgang Kils Plädoyer sollten die West-Linken nicht nur ernstnehmen, sondern als Provokation auffassen. Es geht nämlich auch um den Umang mit unserer Vergangenheit, von dem abhängt, ob wir eine Zukunft haben. Man kann nicht nur andere, sondern auch sich selbst kolonisieren.

Detlef Michel

Der Autor ist langjähriger Mitarbeiter des Grips-Theaters in West-Berlin und Co-Autor vieler dort produzierter Kinder und Jugendstücke.