Jetzt lernen die Pferde Marktwirtschaft

■ Die neue Rennbahnstadt und ihre Startprobleme: Drei große Pferderennbahnen - Karlshorst, Hoppegarten und Mariendorf - buhlen in Berlin um die Gunst der Zocker: „Die halten ihr Geld jetzt fest“, klagt der Karlshorster Totoleiter

Hoppegarten. „Mit der S-Bahn 13 Stationen durch Ost-Berlin bei 30 Grad im Schatten nach Hoppegarten - illegal, da die Rennbahn schon im Bezirk Frankfurt/Oder liegt - mit diesen zwei in Plastik eingeschweißten Portionsbeuteln a 25 Mark (Ost) ... du willst die Serie deiner Verluste mit einem genialen Coup vor wilhelminischem Ambiente hier in Hoppegarten beim „Sommerpreis der Zweijährigen“ mit edlen Galoppern beenden.“ Der Krimiautor und exzentrische Zocker Jörg Fauser schrieb dies vor knapp zehn Jahren und zumindest bezüglich der legalen Anreise könnte dem inzwischen gestorbenen Schriftsteller heute geholfen werden.

Seit November haben sich die Fahrtzeiten mangels Grenzformalitäten verkürzt und die „Portionsbeutel“ sind Nostalgie. Es zählt nur noch harte D-Mark. Für wenige Wochen waren die beiden Ostberliner Rennbahnen Hoppegarten und Karlshorst ein Paradies für frustrierte Zocker. Zu günstigem Umtauschkurs ließ sich aufwendig „hin und her kombinieren“ und die langersehnte Riesenquote „war mit der Mütze zu treffen“ - wenn auch nur in Ost-Mark.

An Feiertagswochenenden wie Pfingsten oder Ostern war jeder Tag Renntag, das hat es seit den Zwanziger Jahren in der einstigen Turfmetropole nicht mehr gegeben. Wohl dem, der sein Wettbudget von einem auf den anderen Tag zusammenpumpen kann. Gewettet werden konnte in zwei Währungen, ein schmackhafter Quotensalat war angerichtet.

Doch der Währungsjuli hat jede spielerische Komponente vernichtet. Die Alu-Chips werden nur noch als Wechselgeld zurückgegeben. Die D-Mark wiegt schwerer, auch in den Taschen der Zocker. „Die halten ihr Geld jetzt fest“, meint der Karlshorster Totoleiter am ersten DM-Renntag in der Wuhlheide. Wo zuvor im Durchschnitt mehr als 20.000 Ost-Mark pro Rennen über den Tresen gingen, werden nun magere 7.000 DM gezählt. Draußen an der Bahn allerdings herrscht an diesem Mittwochnachmittag Hochbetrieb. Insider wissen, wo schwarz gewettet werden kann. Das Vertrauen in die neue Währung muß sich der antiquierte Totalisator erst erwerben.

Die Ironie der Stunde will es, daß dieser erste DM-Renntag ein Jubiläums-Renntag in Karlshorst ist. Fast auf den Tag genau vor 45 Jahren gingen hier erstmals am 1. Juli 1945 Traber an den Start. Seit 1894 war Karlshorst eine Steepler -Bahn, so heißen im Fachjargon die Hindernis- und Jagdrennen -Bahnen. Aus dieser Zeit stammt noch ein Steepler-Denkmal im Eingangsbereich von Karlshorst. Sofort nach dem Krieg machten sich einige Rennbahnverrückte daran, den sowjetischen Stadtkommandanten Bersarin zu überreden, daß es in Berlin wieder Pferderennen geben müsse.

In der Umgebung Berlins sammelte man halbverhungerte Traber zusammen und fütterte sie renntauglich. Wochentags Wagenarbeit, sonntags Rennen, das war der Arbeitsplan für ein vor dem Krieg hochgezüchtets Rennpferd. Was die Russen vormachten, konnten die Amerikaner nicht lange verbieten, und so öffnete bald auch das 1913 erbaute Mariendorf seine Pforten für die Wettgemeinde, in Hoppegarten zogen die Galopper auf der traditionsreichsten und schönsten Bahn nach, auf der seit 1868 Arbeiter wie Edelherren, weniger Damen, sich ihren gesellschaftlichen Distinktionsspielchen hingaben.

Heute überwiegt auf den drei Bahnen der untere Mittelstand. Wer aber nun glaubt, daß angesichts der allgemeinen nationalen Lage der Osten darbt und der Westen blüht, der hat sich getäuscht. Der Mikrokosmos Rennbahn entfaltet ein eigenes deutsch-deutsches Gesellschaftsstück mit Überraschungen. Mariendorf, das seit dem Mauerbau ein wohliges Schlummerdasein führte und trotzdem eine treue Turfgemeinde insbesondere zur alljährlichen Derbywoche versammelte, ist seit der Maueröffnung in eine schwere Umsatzkrise geschlittert, personelle Konsequenzen sind bereits gezogen worden. Die Mariendorfer Wetter lassen die Bahn sonntags und mittwochs rechts liegen und fahren weiter zum südlichen Grenzübergang in Richtung Zossen, nach Köngiswusterhausen oder Klein-Machnow. Das 50-Millionen -Unternehmen verzeicnnete im ersten Halbjahr einen Umsatzrückgang von fast einem Drittel. Auf den Rennbahnen der Noch-Hauptstadt hingegen, wo sonst nur eine Handvoll realexistierender Pferdewetter unter sich war, wurden Umsatzrekorde erzielt. Hoppegarten beispielweise eröffnete ihre Saison am 1. April unter einem guten „Mercedes-Stern“ mit einer gigantischen Werbeshow.

Zunächst freilich dominierte der Westen. Das bessere System, so dachte man, hat auch die besseren Pferde. Auf einer Auktion volkseigener Traber in Karlshorst waren im Winter DDR-Traber zu Schleuderpreisen verhökert worden, gegen die selbst schwache Westpferde gewannen. Hinter den Kulissen waren aber einige Mariendorfer Rennstallbesitzer und Trainer doch schlau genug gewesen, über Strohmänner am Ausverkauf der volkseigenen Ställe zu partizipieren. Von den rund 400 Karlshorster Startpferden befinden sich inzwischen über 200 in westdeutschem Besitz, auch wenn in der Besitzerspalte Namen von DDR-Bürgern zu lesen sind.

Das Experiment ging auf. Innerhalb von wenigen Wochen gelang es Mariendorer Trainern, die frisch erworbenen Ost -Traber zum Teil sensationell zu verbessern. So schraubte der mäßige Afas seinen persönlichen Rekord auf eine auch für westliche Verhältnisse ansehnliche Zeit. „Wir bringen den Pferden die Regeln der Markwirtschaft bei“, meinte ein Besitzer ironisch, „unser Ossi bekommt jetzt mehr und besser zu fressen, aber dafür muß er auch mehr arbeiten.“

Auch aus züchterischer Sicht haben die DDR-Rennpferde eine Aufwertung erfahren. Einige Mutterlinien der DDR-Zucht sind durchaus brauchbar, gehen sie doch auf erstklasige Linien früherer Jahre zurück. „Es ist sogar wünschenswert“, meint der Berliner Züchterpapst Hans Walter von Kolpinski, „diese wieder aufzufrischen.“ Die zwei Trabergestüte der DDR, Lindenhof und Prieros, haben trotz bescheidener Möglichkeiten gute Arbeit geleistet, um deren Früchte sie jetzt bangen müssen. Die Geschäfte nämlich machen finanzstarke Westler. Einem Großteil des DDR-Stallpersonals droht die Entlassung.

„Wir wußten, daß wir einen Rückstand haben, aber daß wir so schlecht sind, haben wir nicht geahnt“, meinte eine inzwischen gekündigte Berufsfahrerin aus Karlshorst resiginiert. Nur wenigen DDR-Aktiven wird es gelingen, im harten Konkurrenzkampf unter Westbedingungen zu bestehen. Der Pferderennsport ist und war seit je privatwirtschaftlich organisiert, nun ist die D-Mark das Maß aller Dinge. Für die Wetter gilt das auch, aber für sie ist es gleichglütlig, auf welcher Bahn und auf welchem Pferd sie „abschaffen“ oder „anschaffen“. Die Branche, sprich: die Rennvereine, zittern grenzübergreifend. Kann eine Stadt wie Berlin drei Rennbahnen verkraften?

Den Herren in den Rennvereinen, die nun mit besorgten Mienen und der Hand am Rechenschieber ängstlich auf die Umsatzzahlen blicken, wäre vielleicht ein Blick in die eigenen Rennsportannalen zuzumuten, als mehr als die doppelte Zahl an Rennbahnen um die Gunst der Berliner Wetter warben. In Mariendorf, Ruhleben und Westend (zuvor wurde noch in Weißensee veranstaltet) gingen Traber an den Start, während neben den Hindernisrennen in Karlshorst die Galopper außer in Hoppegarten auch auf der Grunewaldbahn und in Strausberg starteten. Hunderte von Wettbüros und zusätzliche illegale „Winkelbuchmacher“ verstanden es, attraktive Kurse auf Pferde anzulegen. Laufende Pferdebeine standen weitaus höher in der Gunst der Zuschauermassen als knubbelige Kickerfüße.

Und auch heute, trotz Erst- und Zweitligist in Berlin, kann man angesichts des attraktiven Angebots mehr denn je von einem ausgehen: Egal, wer das Rennen macht, Berlin ist wieder eine Rennbahnstadt.

Gottlieb Haferkwiet