Daß Musik ins Rumoren kommt

■ Ein verspätetes Buch zum 60. Geburtstag des Komponisten Dieter Schnebel

und einige fortdauernde Probleme

Von Frieder Reininghaus

In den Sechziger Jahren erhob sich Dieter Schnebel: als theoretischer Kopf der Neuen Musik in der Bundesrepublik. Zugleich mehrten sich seine kompositorischen Arbeiten: Auf die Versuche der Fünfziger Jahre und die Nebenprodukte liturgischer Auseinandersetzung folgten die Serien Abfälle und Modelle, die ausgestellten Produktionsprozesse, die Radiophonien, die von Musik erfüllten (oder von einer nurmehr „inwendigen“ Musik, also Stille besetzten) Räume. Zwischen Ki-no (1963-67) und den Gehörgängen (1972) steht das Buch MO-NO Musik nurmehr zum Lesen. Vielleicht auch als Selbsttherapieprogramm für Musikkenner (-liebhaber, -geschädigte). War Arnold Schönberg (über dessen Dynamik Schnebel 1955 in Tübingen promovierte) angesichts seiner Zwölf-Ton-Kompositionen in den Zwanziger Jahren vorgeworfen worden, das sei bloß „Musik zum Lesen“, so wandte Dieter Schnebel die Polemik ins Positive. Da es, seit dem Mittelalter, eine lange Tradition der „Augenmusik“ gibt, stellte er sich in deren Linie und radikalisierte seine optischen Modelle nicht minder als die akustischen. Um 1970 war Schnebel, Jahrgang 1930, eine der interessantesten Figuren an den durchbrochenen Grenzlinien der Avantgarde.

Angefangen hatte er zwei Jahrzehnte zuvor ganz woanders. Hatte in Freiburg Klavier studiert und Theorie bei Erich Doflein, war von Hindemith zur Begeisterung für Anton Webern vorangeschritten. „1950 kamen mir zum ersten Mal Werke von Arnold Schönberg zu Gehör; und bis ich das erste Mal von Webern hörte, wurde es gar 1952; in diese Zeit fällt auch die Wiederbekanntschaft mit Gustav Mahler“, plauderte der Komponist vor vielen Jahren auf mein Band. „Das Problem der Situation 1945 und der folgenden Jahre bestand darin, daß in Deutschland kulturell tabula rasa gewesen war, daß man völlig abgeschnitten war von dem, was sich in der Kunst, ja in der Kultur überhaupt an Wichtigem vollzogen hatte.“

Die These von 1945 als Stunde Null blieb schon damals nicht unwidersprochen. Die Tafel, wenn wir sie uns senkrecht denken wollen, war ja wohl besudelt. Das Problem der Nachkriegsjahre war ja vor allem auch, daß mit den kulturellen Bedrängern sowenig „reiner Tisch“ gemacht wurde wie mit den politischen. „Meine Generation“, antwortete Schnebel darauf, „wurde sehr rasch antifaschistisch, sei es aus Enttäuschung, sei es, daß man nun all das, was in den Nazi-Jahren tabuiert war, kennenlernte - und an diese von den Nazis tabuisierte Entwicklung knüpfte man an; Hindemith, Bartok und Strawinsky bildeten eher Zwischenstufen, und man kam zu der in Deutschland besonders tabuisierten Traditionslinie von Schönberg und Webern.“

Eine neue Tabuisierung reagierte auf die vorangegangene. Schnebel hat nun auch Philosophie und Theologie durchaus studiert, mit heißem Bemühen. Der Lohn des Eifers war eine Pfarrstelle in Kaiserslautern. Von dort kam er als Religionslehrer nach Frankfurt und München; 1977 trat er eine Professur in Berlin an. Der rückwärtige Blick vom Pfarrhaus, der ja nur zu oft über den Friedhof geht, ließ Zeit und Raum für intensive theoretische Arbeit. Ihre wichtigsten Resultate sind im Sammelband Denkbare Musik (1972) zusammengetragen. Ausführlich untersucht wurden die Klaviervariationen Schönbergs und Weberns, und Schnebel entwickelte eine durchaus eschatologische Erwartung gegenüber der Neuen Musik: „Die Entwertung des Bestehenden, die zugleich seine Erfüllung will, ist die Aufgabe unserer Musik. Schönbergs Werk weist darauf hin, wenn sich in ihm die Geschichte umdreht. So werden gerade jene tonalen Werke zu Zeichen einer neuen - und letzten Phase der Musik.“

Vor allem aber schritt der junge Theoretiker, zunächst ganz in den Fußstapfen des großen Adorno, vom Gottesdienst zum Götzendienst an Karlheinz Stockhausen fort, wurde einer von dessen dienstbaren Geistern: Stockhausens früher kompositorischer Reichtum sei „zwar als solcher kein realer, eine Anhäufung von Schätzen, aber einer, der sein Dasein der Hoffnung verdankt. Jedes Detail erhält sein inneres Leben und seine Aura durch das, was es erwarten läßt“ (ganz so, wie einst bei Christus). Um die Schlacht für die Moderne erfolgreich zu schlagen, galt es deren Traditionslinien in die Geschichte der Musik zu projizieren. Schnebel hat dies virtuos verstanden: „Solches Komponieren ist insgeheim strukturell“, schrieb er über Gustav Mahlers Spätwerk, als der Strukturalismus in Schwang kam. „Die Musik vor Mahler und die von Zeitgenossen wie Strauß und selbst Schönberg geht von charakteristischen Gestalten der Art von Themen aus, die trotz aller Verarbeitung festgehalten werden. Mahler nicht länger; bei ihm sind es musikalische Strukturen. (...) So steckte Mahlers späte Musik voller Tendenzen nach vorn (Bloch) - Tendenzen, die immerhin so weit reichten, daß sie bis heute erst sich zu erfüllen beginnen. Man hat vor einigen Jahren Debussy als einer der Väter der jüngsten Musik entdeckt. Dies ist ebenso für Mahler fällig.“

Also auch Debussy: Er „schuf seine Kompositionsmethode, indem er, grob gesagt, die Akkordkette der traditionellen Musik auseinanderschlug. Die Akkorde zerfielen dann in ihren Bestandteil; sie organisierte er zu irgendwelchen Klanggestalten, daraus er Folgen bildete und so Form wachsen ließ.“ Die Wiederaneignung der Musikgeschichte, zunächst unter ganz technischem Blickwinkel einer durch Weberns Nadelöhr gepreßten musikalischen Moderne, später angereichert durch Adornos physiognomischen Blick und Blochs Lust an literarischen Leitmotiven, brachte brillante Essays über Schubert Auf der Suche nach der befreiten Zeit und die Aktualität Wagners hervor: Wagners Bühnenfiguren, diese „Gestalten dünster wie die Geister aus der Flasche gleichsam aus der Musik hervor, werden in ihr anschaulich - und gehen, wie Isolde am Schluß des Tristan oder wie die Personen im Ring, am Ende der Götterdämmerung, auch wieder in ihr unter“.

Ernst Bloch zum 80. Geburtstag (1965 immerhin schon) schrieb Dieter Schnebel ein hohes Loblied auf John Cages experimentelle Formen, Die kochende Materie der Musik: Kaum eine Innovation der frühen sechziger Jahre sei nicht auf Cage zurückzuführen, die variablen und vieldeutigen Formen, die unerhörten Veränderungen der Notenschrift selbst, die „unkonventionelle Verwendung der Instrumente zwecks Klangerzeugung oder Verwendung von unkonventionellen Klangerzeugern als Instrumenten“, die „Theatralisierung der Interpretation oder überhaupt Musik als Theater“. Cage und die Leute in seinem Umfeld hätten „nicht nur Rumor komponiert, sondern überhaupt so, daß Musik ins Rumoren kommt, und also ihre Materie Form bildet, freilich auch alte Formen sprengt und abstreift“.

Mit fast zwei Jahren Verspätung wurde in der Szene musikalischer Avantgarde etwas nachgeholt: die Öffnung gegenüber den Errungenschaften der amerikanischen Freunde und damit auch ein Moment von Demokratisierung (in der Hypostase einer einzigen „wahren“ Entwicklungslinie der Neuen Musik von Schönberg über Webern zu Stockhausen setzte sich weniger eine auf die Vielfalt der gesellschaftlichen Erscheinungen und die Widersprüche des Geschichtsprozesses orientierte Theorie der Musik ins Werk als das Wünschen der autoritären Charaktere). Cage gegen das deutsche Mittelmaß auszuspielen - darin lag ein durchaus antiautoritärer Akt des Dieter Schnebel. Das soll ihm nicht vergessen sein.

Auch John hat's nicht vergessen und sich jetzt für das frühe und so entschiedene Engagement mit einem Gedicht revanchiert, dessen Zeilen durch die Buchstaben des Namens Dieter Schnebel zusammengehalten werden wie ein Körper durch das Rückgrat. Diese Huldigung eröffnet den neuen Sammelband, den drei wissenschaftliche Mitarbeiter der Hochschule der Künste in Berlin (etwas verspätet zum 60. Geburtstag Schnebels) herausgegeben haben - Texte höchst unterschiedlichen Zuschnitts vom und zum Meister. Das reicht von verehrungsvoll gewidmeten Bagatellen der jungen Berliner Komponistin Isabel Mundry bis zu aphoristischen Bemerkungen zum einen oder anderen Werk aus Schnebels Feder, von der branchenüblichen festschriftlichen Altherren-Anekdote bis zur ambitionierten invertierten Synekdoche (einem offensichtlich unreifen Kirschlein am Baum der Musikwissenschaft).

Gleichwohl zielt der Sammelband immer wieder auf Grundsätzliches: da wird, wenigstens en passant, der Versuch der Festschreibung der neueren Musikgeschichte fortgesetzt. Mit all den Schwierigkeiten, die solch ein Unterfangen mit sich bringt: „Dieter Schnebels Musik entzieht sich immer wieder einem einzigen Zugriff“ - Recht hat sie, denke ich. Selbst Komponistenkollegen, die sich radikal von der durch Schnebel repräsentierten Moderne abwandten, zollen ihm auf kluge Weise Respekt. Lorenzo Ferrero, der zuletzt Charlotte Corday in die Badewanne zerrte und mit puccinischem Wohlklang einseifte, sieht zwar in der bis zur Gegenwart reichenden Avantgarde nichts als „die extreme Verlängerung der romantischen Kompositionskrise“, aber Schnebel erscheint ihm in dieser singulär. Nicht „weil er sich von den Erfahrungen der letzten dreißig Jahre getrennt hätte“ (warum sollte er auch!), sondern weil er einem Prinzip Offenheit gefolgt sei, eine Erweiterung der Perspektiven der Musik betrieb und vorzüglich Erwartungen zu enttäuschen verstehe.

Schnebel selbst präsentiert sich in dem neuen Buch mit einem Erfahrungsbericht über „Die Tradition des Fortschritts und den Fortschritt der Tradition“. Er verweist auf den theologischen Begriff von Tradition - wie überhaupt das Pastorale und Schulmeisterliche immer wieder durchschimmern. In auffälligem Kontrast zur zwar klappernden, aber immerhin intendierten Dialektik des Essays steht die in ihm jetzt vorgetragene These, das Jahr 1945 sei für Europa und für Deutschland zumal „ein Neubeginn an einem Nullpunkt“ gewesen. Mit dieser Schutzbehauptung scheint die Vätergeneration der Schöpfer Neuer Musik in der Bundesrrepublik, die langsam zur Großvatergeneration vorschreitet, leben und sterben zu wollen. Gäbe es nicht die frappierenden Parallelen im Denken und Verhalten deutscher Künstler im Jahr der Implosion ihrer DDR, würde das Rechtfertigungsdenken der Generation der Hitlerjungs vielleicht nicht so unangenehm aufstoßen. Tut es aber.

Schnebels Abschied vom Theoretikerdasein (dem auch künstlerische Beiträge entsprangen) vollzog sich allmählich, aber unaufhaltsam. Die Schleusen, welche das lange zurückgehaltene künstlerische Unterbewußtsein regulierten, wurden in den siebziger und achtziger jahren weit aufgestoßen. Auf ein halbes Dutzend Projekte der Rubrik Schulmusik folgten die Re-visionen (und Revisionismus in künstlerischen Fragen durfte schon immer nachdenklich stimmen); es folgten, polemisch-programmatisch, die Arbeiten unter dem Obertitel Tradition seit 1975 der „Provokateur“ wurde professorabel: „Tradition“ von den Canones und dem B-Dur Quintett bis zur Dahlemer Messe (Herbst 1988). Über die schrieb der Ostberliner Frank Schneider im neuen Sammelband, sie verrate eine „gemischte“ Haltung des „tiefen Respekts vor den künstlerischen Werten der Vergangenheit und zugleich auch die kritische Skepsis gegenüber den Formen ihrer modernen Aneignung, den objektiven Funktionen und subjektiven Umgangsweisen im gegenwärtigen Kunstbetrieb“. Mag freilich das eine oder andere im Ansatz häretisch gedacht gewesen sein bei diesem „intendierten Hauptwerk“ und mag diese „Missa“ auch dogmatischen Verbindlichkeiten nicht genügen, so dürfte doch das positive Signal, welches dieses Werk setzte, alle Ketzerei marginal erscheinen lassen. Vom kritischen Einspruch gegen als obsolet erkannte kirchliche Rituale ist nurmehr ein leises Rascheln übriggeblieben und mit ernsthaftestem Kunstaufwand manifestiert sich da ein Glaube, der bekanntlich Berge versetzt. Verständlich erscheint durchaus, daß ein Kopf wie Schnebel des Ausharrens in trockenen und finsteren Tälern überdrüssig war. Nach all dem Spektakulären, das er - in zum Teil durchaus wörtlichem Sinn - geleistet hat, zog er sich, nach seinen eigenen Worten, auf den „unauffälligen Fortschritt“ zurück - auf die Seite des Sich-Einrichtens und Tradition-Bildens eher als auf die des „Fortschreitens, auf daß da wiederum ein Neues werde, das womöglich Rettung bringt“.

Werner Grünzweig u.a. (Hg.): Schnebel 60. Wolke-Verlag, Hofheim 1990, 374 S., 48 DM.

Dieter Schnebel: Denkbare Musik. Schriften 1952-72. Verlag DuMont-Schauberg, Köln 1972, 502S., 48 DM.