Weg mit der Klausel!

■ Zum Parteienstreit über die Fünf-Prozent-Hürde

GASTKOMMENTAR

Im Unterschied zu den meisten Demokratien leistete sich die Bundesrepublik 1949 eine parlamentarische Sperrklausel: Nur wer fünf Prozent der Zweitstimmen (oder drei Direktmandate) eroberte, darf bekanntlich ins Bundeshaus resp. Wasserwerk. Diese Vorkehrung sollte „Weimarer Verhältnissen“, also Parteienzersplitterung und Unregierbarkeit vorbeugen. Bonn sollte nicht Weimar werden. Das war damals verständlich. Aber heute sollten wir die Legende, daß die Erste Republik an ihrem mehrheitsfeindlichen Wahlmodus zugrundegegangen ist, nicht mehr unbesehen hinnehmen. Der aktuelle Streit geht leider nicht um die Frage, ob wir die Sperrklausel noch (oder wieder) benötigen, sondern darum, ob man sie, gewissermaßen im Gnadenakt, zur letzten eventuell noch gesonderten DDR-Wahl ausnahmsweise und einmalig auf drei Prozent absenken soll.

Das Elend der wiederkehrenden Sperrklausel-Debatte besteht darin, daß die hehren Prinzipien, die da immer vorgetragen werden, äußerst fadenscheinig sind. Dahinter schimmert regelmäßig der blanke Opportunismus der Machterhaltung hervor: wie sich nämlich die etablierten Parteien „ihr“ Parteiensystem zurechtschneiden möchten. Die Union, die auf den ersten Blick selbstlos erscheint und großzügig Wahlakt wie Wahlrecht splitten möchte, will bloß nicht den schlafenden bayerischen Löwen wecken, der in Sachen DSU bekanntlich schwer zu verdauen hat und jederzeit in Wildbad Kreuth auftauchen kann. Die SPD tritt prinzipienfest auf und verteidigt die Fünf-Prozent-Hürde gesamtdeutsch - aus Angst vor der PDS und der grünen Konkurrenz. Die FDP turnt scheinbar wagemutig am eigenen Abgrund herum, weil sie allein das „Zünglein an der Waage“ sein möchte; im übrigen verläßt sie sich auf das Sicherheitsnetz der Zweitstimmenkampagne, die ihr seit 1953 regelmäßig Leihstimmen aus dem jeweiligen Koalitionslager eingebracht hat.

Was das alles mit Demokratie zu tun hat? Nichts. Andere Demokratien und Demokraten sind noch liderlicher mit dem Wahlrecht umgegangen: Fran?ois Mitterrand zum Beispiel hat sich sogar die extreme Rechte ins Palais Bourbon geholt, um seine linke Parlamentsmehrheit zu sichern.

Würde man im Sinne der repräsentativen Demokratie argumentieren, dann stünde heute einzig die ersatzlose Streichung der fatalen Klausel (samt Zweitstimmenregelung) an oder wenigstens die Absenkung der überholten Hürde auf ein bis zwei Prozent - sofort und gesamtdeutsch. Das erfordert nicht mehr Mut und Selbstvertrauen als der Rest des Einigungsprozesses. Auch mit fünf oder sechs Parteien und hießen sie „Republikaner“, DSU oder PDS - kann die (dann) Dritte Republik leben, wenn genügend Konsens über ihre Grundlagen besteht.

Gerade weil der auszugehen droht, muß das 49er Modell zeitgemäß runderneuert werden. Wenn die Kräfte der demokratischen Erneuerung - in ökologischer Hinsicht und vor allem in Sachen Bürger- und Minderheitenrechte - ausgesperrt werden, dann erfährt die Volksvertretung und das gesamte Parteiensystem noch mehr Glaubwürdigkeitsverluste. Daran und nicht am Wahlrecht - ist die Demokratie damals bei uns und heute anderswo zugrundegegangen.

Claus Leggewie

Der Autor ist Politologe und lebt in Köln