Verklammerung von Partei und Staat aufgelöst

■ Allein Gorbatschow behält seinen Sessel im Politbüro / Scharfe Kritik an Parteiaustritten

Moskau (afp/taz) - Am Freitag und Samstag hat das neugewählte ZK der KPdSU seinerseits die Parteiführung Politbüro und Sekretariat - gewählt. Wie angekündigt, kandidierten eine Reihe von Regierungsmitgliedern wie Außenminister Schewardnadse und Ministerpräsident Ryschkow nicht mehr für leitende Funktionen in der Partei. Gorbatschow ist nun der einzige, der mit dem Präsidentenamt das des Generalsekretärs verbindet; das bezeichnet er selbst aber als Übergangslösung. Damit hat die KPdSU faktisch die Verklammerung von Partei und Staatsfunktionen an der Spitze des Machtapparats aufgelöst.

Dem Rückzug der Parteiführung von der Regierungstätigkeit entspricht die Stärkung des Präsidialrats und die von Gorbatschow selbst. Dem Präsidenten ist es gelungen, dem Parteitag sowie dem ZK ein Personalpaket schmackhaft zu machen, das eine Reihe von engen Gorbatschow-Beratern und Freunden berücksichtigt, ohne die Vertreter der konservativen Apparatfraktion auszuschließen.

Zu den entschiedenen Reformern im Politbüro gehört neben Valentin Falin, der wie bisher für internationale Angelegenheiten zuständig ist, auch Iwan Frolow, der Chefredakteur der 'Prawda‘. Mitglied des Sekretariats, nicht aber des Politbüros, wurde der führende intellektuelle Kopf der „Neokonservativen“, der erste Sekretär der KP Leningrads, Boris Gidaspow. Er war jüngst mit dem Vorschlag hervorgetreten, in den Großstädten „Statthalter“ Gorbatschows zu installieren. Diese Posten böten sich für abgehalfterte Parteigrößen an. Unter den ersten Sekretären der Unionsrepubliken, die kraft Amtes dem Politbüro angehören, finden sich der Konservative Iwan Poloskow, dessen Wahl auf dem konstitutiven Parteitag der russischen Föderation zu einem Triumph der bürokratischen Apparatfraktion geworden war, und etliche ebenso konservative Provinzfürsten wie Jefrem Sokolow aus Belorußland. Ihnen stehen allerdings mit Mowsessian und Gumbaridze, den Sekretären der armenischen und georgischen Partei, engagierte Vertreter eines weiteren Demokratisierungskurses gegenüber. Daß der Parteitag und später das ZK eine Reihe von Konservativen durchfallen ließen und Mitte-links-Kandidaten favorisierten, hat sicher mit der Sorge vieler Funktionäre zu tun, es werde zu einem Massenaustritt demokratisch gesinnter Parteimitglieder aus der KPdSU kommen. Einen solchen Exodus hat auf alle Fälle Boris Jelzin, der selbst seinen Parteiaustritt erklärt hatte, am Wochenende der KPdSU prognostiziert.

Michael Gorbatschow hat diesen Akt „mit Verachtung“ zur Kenntnis genommen. Schon bei seiner Schlußansprache vor dem Parteitag wandte er sich gegen diejenigen, „die von der Partei Buße fordern, sie eine verbrecherische Organisation nennen und damit versuchen, sie aus dem politischen Leben auszugrenzen“. Gorbatschow unterbreitete den Demokraten allerdings gleichzeitig ein Bündnisangebot: „Jetzt müssen wir in der Praxis beweisen, daß die Idee einer breiten Koalition für die Überwindung der Krise und zur Verwirklichung tiefer Reformen kein taktischer Zug ist (...) Allen, die für Demokratie und Sozialismus sind, reichen wir die Hand.“ Der Präsident versicherte, daß er für die grundlegenden Umgestaltungen, zu denen er die Entwicklung des Dorfes, die Lösung des Lebensmittelproblems, die Festigung von Disziplin und Ordnung, die Radikalisierung der Wirtschaftsreform und schließlich den Abschluß eines neuen Unionsvertrages zählte, alle durch die Verfassung vorgesehenen Vollmachten seines Amtes ausschöpfen werde: „Es wird niemandem gestattet werden, die Perestroika zum Scheitern zu bringen.“ In einem Zuge mit der Wahl der Parteiführung setzte der Parteitag eine Kommission ein, die ein neues Parteiprogramm ausarbeiten soll. Wissenschaftler und Fachleute sollen sich an der Arbeit dieser „Kommission beteiligen. Der Entwurf soll Mitte 91 fertiggestellt und Mitte 92 von einer Parteikonferenz angenommen werden. Vorsitzender der Kommission ist Michael Gorbatschow.

CS