Erschöpft und mit fast nichts am Leibe

■ Sonntag morgen traf der Sonderzug mit den albanischen Flüchtlingen ein / Die Menschen sind am Rand ihrer Kräfte / In Niedersachsen sollten zuerst unterirdische Bunker als Notunterkünfte dienen

Aus Friedland Reimar Paul

Der Sonderzug aus Basel hat Sonntag morgen um halb drei Einfahrt. „Friedland, Friedland, hier ist Friedland“, scheppert eine Stimme durch die veralteten Lautsprecher. Der kleine, unwirtliche Bahnhof des Grenzdurchgangslagers ist von den Scheinwerfern der Fernsehteams grell ausgeleuchtet. Reporter, Rot-Kreuz-Schwestern und Lager-Offizielle hasten über die Gleise. Die eigens aus Oldenburg und Münster eingeflogenen Dolmetscher postieren sich mit ihren Megaphonen an den Wagentüren.

Die Hälfte der rund 700 Fahrgäste hat das vorletzte Etappenziel ihrer langen und beschwerlichen Reise erreicht. 371 albanische Flüchtlinge sind Niedersachsen nach dem Länderschlüssel zugewiesen worden. Für die anderen geht die Fahrt noch weiter - nach Hamburg, Bremen, Berlin und Schleswig-Holstein.

Schlaftrunken, mit blassen, übernächtigten Gesichtern stolpern und torkeln die ersten aus den Waggons. 55 Stunden sind sie jetzt seit dem Ablegen der italienischen Fährschiffe aus Albanien unterwegs.

Die Einschiffung am späten Donnerstag abend war chaotisch verlaufen. Die albanischen Behörden hatten lediglich einen UNO-Vertreter als Beobachter bei der Abfahrt aus Tirana zugelassen. Mit Bussen wurdendie insgesamt mehr als 5 000 Flüchtlinge unter starkem Polizeischutz zum Hafen Durres und auf die Schiffe gebracht. Italienische Zeitungen berichteten, daß es trotz der Sicherheitsmaßnahmen zu Zwischenfällen kam, als Hunderte von weiteren Fluchtwilligen versuchten, zu den Fähren vorzudringen.

Die wenigen gut Ausgestatteten unter den fast ausschließlich jüngeren Menschen tragen ihre Habseligkeiten in einer Plastiktüte bei sich. Aber die meisten besitzen buchstäblich nichts. Keine Dokumente, kein Geld, nicht einmal Schuhe oder eine Jacke. Sie haben sich, wie aus den später in stockendem English oder Italienisch geführten Unterhaltungen ersichtlich wird, spontan, von einer Minute auf die andere, zur Flucht in die westdeutsche Botschaft entschlossen. Mit neuer Kleidung oder wenigstens Schuhwerk hat sie bislang niemand ausgestattet.

Viele der in abgewetzten Wolldecken gewickelten Babies schreien. Die meisten leiden unter Durchfall, andere haben sich unterwegs mit ansteckenden Krankheiten infiziert. Völlig überforderte Krankenschwestern nehmen die Kleinkinder in Empfang und bringen sie in die bereitgestellten Krankenwagen. Weinende Mütter bleiben orientierungslos zurück. Im Großen Speisesaal, der 400 Menschen Sitzplatz bietet, ist inzwischen gedeckt worden. Es gibt Eintopf, Weißbrot, Birnen und Tee. Später noch einen neuen Trainingsanzug pro Person. Immer wieder bringen die Flüchtlinge ihren Wunsch nach „Fumari“, Rauchen, vor. Der von der Landesregierung zum Empfang entsandte Minister für Bundesangelegenheiten, Trittin, läßt aus einer Gaststätte Zigaretten herbeischaffen. „Es ist das unveräußerliche Recht von Menschen, vor Situationen zu fliehen, die sie nicht länger aushalten können“, sagt Trittin in einer kurzen Begrüßungsansprache. „Und es ist die Pflicht von demokratischen Ländern, diese Menschen aufzunehmen.“

Formal hat die Bundesregierung dieser Pflicht Genüge getan. Die albanischen Flüchtlinge brauchen sich keinem Asylverfahren zu unterziehen. Schon in Tirana war ihnen ein unbefristetes Niederlassungsrecht zuerkannt worden. Für die vorübergehende Unterbringung der Niedersachsen zugewiesenen AlbanerInnen hatte sich das Bonner Innenministerium jedoch eine wenig menschenfreundliche Variante ausgedacht: unterirdische Krankenhäuser und Zivilschutzbunker in Norddeutschland. Erst nach energischen Verhandlungen, so Jürgen Trittin gegenüber der taz, habe dieser „unglaubliche Vorschlag“ abgewendet werden können. Nun kommen die Flüchtlinge in fünf niedersächsischen Kleinstädten unter, wo kurzfristig Aussiedlerunterkünfte freigemacht wurden.

Aus dem Auswärtigen Amt ist unterdessen bekannt geworden, „bis auf weiteres“ sei nicht damit zu rechnen, daß weitere Zufluchtsuchende in die Botschaft der Bundesrepublik in Tirana gelangten. Wegen „dringlicher Reinigungs- und Reparaturarbeiten“ könne die Vertretung zur Zeit nicht weiterarbeiten. Haus und Grundstück befänden sich in einem „unvorstellbaren Zustand.“

Als im Morgengrauen die Einteilung auf die verschiedenen Orte und Busse endlich losgeht, sind einige AlbanerInnen am Tisch eingeschlafen.