Abschied von einer Vision

In West-Berlin freut man sich: Die Grenze ist weg. In Ost –Berlin, wie in der ganzen DDR, ist mit dem Einzug des Kapitalismus noch viel mehr in der Buddelkiste der Geschichte entschwunden: die „lichte Vision“ Sozialismus.  ■ Von ANDRE BECK

Abschiedsszenen haben etwas Groteskes, Sentimentales an sich, wenn die Zeitspanne des Scheidens überschaubar und nur von kurzer Dauer ist. Geht es aber ans Eingemachte, soll von einem ganzen Land Abschied genommen werden, kostet das etwas mehr als nur eine lakonische Bemerkung: das war's denn. Für viele DDRler bedeutet die selbstgewollte Abnabelung von Bevormundung und der Sprung in die Welt den Verlust von Lebenserfahrung, die morgen nichts mehr wert ist, Erinnerungen, die sich in nostalgisches Schwelgen verkehren, schönen Gewohnheiten, denen so nicht mehr zu frönen ist, das Schwinden der eigenen Identität, weil alles bisher Gewesene nicht mehr stimmt. Als zynischer Trost bleibt so manchem nur das Scheitern der anderen, jener, die der radikalen Möglichkeit eines Neubeginns hilflos ausgeliefert sind und an der Frage verzweifeln: Was mache ich mit der neugewonnenen Freiheit?

Nur wenige Kilometer vor den Mauern Berlins streunt noch der Wolf durch das heranwachsende Getreide, mästen sich Rind und Schaf an den vom warmen Landregen geträuften fetten Weiden und stieren stoisch ihrem Schicksal auf der Schlachtbank entgegen. Am Alexanderplatz, Unter den Linden, in der Schönhauser und selbst im bisher verschlafenen Scheunenviertel ist längst eine satte Bonner Saat aufgegangen, die auch um vieles besser im Saft steht. Für ihre Früchte werden nun Läden und Lager, Scheuern, Ställe und Silos, Häuser und Handelsketten, Betriebe und Bahnhöfe von Leuten und Beständen der alten Ära leergefegt, um Platz zu schaffen: Fort mit dem Dreck, dem Mist, den keiner mehr haben will.

Darüber herrscht offenbar Konsens bei den Deutschen, bis auf wenige Kostverächter dies- und jenseits von Spree und Rhein. In der Noch-DDR wird sich kräftig von allem verabschiedet, keine Träne wird vor allem und zuerst dem Sozialismus nachgetrauert. Der sollte, ginge es nach Kohl, durch einen hedonistischen Konsumismus zersetzt werden. Die Bonner Saat avanciert so zu einem sinnlichen Erlebnis kulturell durchdringt ein konsumorientiertes, alles assimilierendes Zentrum die Welt.

Im Noch-DDR-Land wird – wenn auch etwas verspätet allerortens mit deutscher Gründlichkeit und emsig einverleibt. Obschon in ländlichen Gegenden die triumphale Freßorgie des neuen Lebensgefühls behäbiger voranschreitet, geht es in den aufgeklärten Großstädten mit Berlin als Symbolobjekt rasanter vorwärts. Der DDR-Bürger ist bewaffnet – endlich mit dem richtigen Geld und ausgestattet mit Kreditkarten der Dresdner oder Deutschen Bank. Er betrinkt sich am Coca-Cola-Spirit, beweihräuchert sich mit dem Geruch der großen weiten Welt und fährt auf Mercedes-Benzens Siebenmeilenrädern. Damit kann er alles plattwalzen, „Tempo Unlimited“, wenn es sein muß – Berlin hat's bewiesen Mercedes-Benz betoniert mit Erfolg auch eine Landebahn für den Kapitalismus auf dem Potsdamer Platz, wenn es sein muß.

as diesen neuerlichen zivilisatorischen Kreuzzug bundesdeutscher Prägung von historischen unterscheidet etwa von der spanischen und portugiesischen Eroberung Lateinamerikas, den Interventionskriegen des christlichen und bürgerlichen Abendlandes gegen die Sowjetunion, dem großen Beutezug Hitlers für das Abendland und nach dessen kläglichem Versagen der darauffolgenden Kreuzzugsstimmung im Kalten Krieg – ist der offensichtlich vom Erfolg gekrönte „friedliche“ Kampf der guten alten, bewährten Kräfte gegen „neue Hirngespinste“, gegen die unerprobte Utopie und „Vision des Sozialismus“, die schließlich und schlicht aufgefressen wird.

Doch die Realitäten übersteigen die geheimsten Träume: Schneller noch, als es sich die Gurus deutscher Einheitspolitik hätten erhoffen können, wurde der Honecker –Volksbeglückungsstaat hinweggefegt. An der rasanten Negation der DDR hatte die Eigendynamik der friedlichen Umwälzungen des vergangenen Herbstes wesentlichen Anteil. Die künstlichen Strukturen zweier separater Staaten – von fremden Mächten installiert – verkehrten sich nach dem Ende des Kalten Krieges zum Anachronismus. Tatsächlich stellt der Abschied vom real existierenden Sozialismus in der DDR für die sozialisierte Mehrheit kein Problem dar, weil sie es überdrüssig war, eingesperrt und in Abhängigkeit gehalten zu werden. Die „lichte Vision Sozialismus“ hat sich selbst ins Abseits gestellt. Sie war nicht immun gegen die Verfälschung durch ihre Machthaber.

Der Abschied von einem Sozialismus, der von einer erstarrten Staats- und Planungsbürokratie – mit Sitz nicht nur in Berlin – okkupiert war, die sich der marxistisch –leninistischen Theorie zu bedienen wußte, um ihre gerontokratische Herrschaft abzusichern, erscheint mehr als folgerichtig. Das ist nun vorbei, die Zeichen und Symbole der alten Macht sind demonstrativ gleich mit abgeschafft worden. An ihre Stelle wird etwas treten, dessen endgültige Konturen noch nicht abzusehen sind. Nach der Rezeptur Bonner und Berliner Köche kann das aber alles sein – außer Sozialismus.

Anstelle von SED-Korsett und Einheitsdenken feiert in der DDR gegenwärtig das öffentliche Basteln von Staatsprogrammen – zuerst der erste, jetzt ein zweiter Staatsvertrag Hochkonjunktur. Bei manchem DDR-Politiker nimmt sich das ungefähr so aus, als wären die Systemgegensätze der große Baukasten „Legoland“, aus dem beliebig die angenehmsten und komfortabelsten Steinchen herauszunehmen wären, um mit ihnen eine dem kleinbürgerlichen DDR-Gemüt entsprechend behagliche Heimstatt zusammenzupuzzeln. Volkskammersitzungen bieten Vorreitervorstellungen, die allenfalls zur Situationskomik auf allen Rängen verkommen, weil mit bestem Wissen und schlechtem Gewissen Diäten kassiert und alles erdenkliche unternommen wird, um möglichst schleunigst alles vergessen zu machen, was vierzig Jahre war.

Aber da jedes Volk die Regierung bekommt, die es verdient, ist ein Lamentieren über den Berliner Zirkus im Palast müßig. „Das Volk“ hatte es bereits im Herbst versprochen, daß sich in dieser Hinsicht – es bleibt ein Staatszirkus nichts ändern wird. Der Ruf „Wir sind das Volk“ – unter Absehen von allen gesellschaftlichen Tätigkeiten – ist nur demjenigen eingefallen, der als Untertan einer politischen Gewalt sprach – und es offensichtlich auch künftig bleiben wird. Die implizierte Frage: „Wie gehört gescheit Staat gemacht?“ verbindet sich mit dem „Erfolg der Nation“, was zum Maßstab der Kritik wurde. Genügen mußte diesem Maßstab nur das Personal der Macht.

etzt haben wir eine Regierung, die zwar nicht in Rom den WM –Pokal nach Deutschland kickte, aber in Weltbestzeit ihr eigenes Grab schaufelt und so zum Erfolg der Nation maximal beiträgt. Der wird dann gesamtdeutsch im Dezember gekrönt.

Anders haben die Aufbrecher verantwortungsvoll ihre ideale DDR geplant, auch nachdem längst die entscheidenden Weichen gestellt sind. Die zu erwartende „Hilfe für eine Leiche“ wird nur in DM-Krediten, Kapitalunternehmungen, kapitalistischer Technologie und kapitalistischen Wirtschaftsmethoden daherkommen. Trotzdem: „Auf der einen Seite wünschen wir uns eine Erweiterung des Warenangebots und bessere Versorgung, andererseits sehen wir deren soziale und ökologische Kosten und plädieren für die Abkehr vom ungehemmten Wachstum. Wir wollen Spielraum für wirtschaftliche Initiative, aber keine Erstarrung in einer Ellenbogengesellschaft. Wir wollen das Bewährte erhalten und doch Platz für Erneuerung schaffen, um sparsamer und weniger naturfeindlich zu leben. ...Faulpelze und Maulhelden sollen aus den Druckposten vertrieben werden, aber wir wollen dabei keine Nachteile für sozial Schwache und Wehrlose. Wir wollen ein wirksames Gesundheitswesen für jeden, aber niemand soll auf Kosten anderer krankfeiern. Wir wollen an Export und Welthandel teilhaben, aber weder Schuldner noch Diener der führenden Industriestaaten noch zum Ausbeuter und Gläubiger wirtschaftlich Schwacher werden“ (Aufbruch '89 – Neues Forum). So konnte man sich noch im Herbst vergangenen Jahres mit einem schlichten, aber für all die angenehmen und einleuchtenden Seiten des Kapitalismus stark machen. Was von diesem postulatorischen Wunschdenken hinter dem „aber“ noch möglich ist, ist bereits heute verschwindend gering. Den notwendigen Wirkungen solcher Programmatik wird man in absehbarer Zeit nicht mehr aus dem Weg gehen können.

Schwacher Trost: Es ist nicht die erste „Revolution“, die die Deutschen in den Sand gesetzt haben. Obwohl die Herbstereignisse vergangenen Jahres einen weitgehend gewaltfreien Umsturz der bestehenden Herrschaftsverhältnisse in der DDR eingeleitet hatten, trägt die Kultur der Gewalt trotzdem den Sieg davon. Wir werden mit unserem Neuanfang in sie hineingeboren, wir kultivieren sie. Wir dürfen nicht überrascht sein, daß bürgerliche Parteienkonkurrenz und Meinungsvielfalt, Gewaltenteilung und Verwaltungsgerichtsbarkeit, die gesamte Palette der bürgerlichen Freiheiten, keine Institution zur besseren Erfüllung von Bürgerwünschen sind, sondern zum unanfechtbaren Niederbügeln von nicht staatsmäßigen Interessen und zur Herstellung selbstbewußten Sich-Fügens dienen. Das wird unser Alltag. Am Horizont dräut der Kapitalismus.