Aber natürlich nehmen wir Sie durchaus ernst..

■ Die Friedensstaffette von Kaliningrad nach Den Haag machte Rast in Berlin: Empfang im entlegensten Winkel des Alexanderplatzes am frühen Sonntag morgen vor fehlendem Publikum / Neuer Nationalismus macht den Joggern Sorgen

Alexanderplatz. „Ich begrüße Sie im Herzen der DDR“, schweifte Gustav „Täve“ Schur, das Radsportidol der 50er Jahre. Die etwa 40 ZuhörerInnen in Jogginganzügen konnten es kaum glauben. Am entlegensten Ort des fast menschenleeren Alexanderplatzes hieß sie das Mitglied des Deutschen Turn und Sportbundes (DTSB) willkommen.

Begleitet von zwei Bussen, in denen sie unterwegs schlafen, waren die AthletInnen am 11. Juli in Kaliningrad auf die 3.000 Kilometer lange Strecke nach Den Haag gegangen. Für Frieden und Umweltschutz wollten sie demonstrieren. So jedenfalls plante es das Organistionskomitee Anfang April. „Es hat sich in der Zwischenzeit in Europa einiges verändert“, meinte ein Teilnehmer aus den Niederlanden. „Jetzt müßten wir eigentlich auch noch gegen den wieder aufkommenden Nationalismus laufen.“

DDR-Umweltminister Steinberg sah dies freilich weniger dramatsch. In einer Grußbotschaft an die UltraläuferInnen, die im früher landesüblichen Monotonfall verlesen wurde, versteifte sich der Minister lediglich auf sein Ressort: „Ihre Initiative ist mir Anlaß, erneut meiner festen Überzeugung Ausdruck zu geben, daß sich mit dem am 1. Juli 1990 in Kraft getretenen Umweltrahmengesetz die Chance eröffnet hat, die dramatische Umweltbelastung abzubauen“, so sein mitreißendes Statement.

Doch selbst das muß sich noch herausstellen. In Lindow, im Norden der „Hauptstadt des Friedens“ gelegen, hatten die Politsportler Wasserproben entnommen und dem Bürgermeister übergeben. Ein DTSB-Mitglied auf dem Alex versprach hoch und heilig, daß die Stichproben nicht wie früher üblich in irgendeiner Asservatenkammer verschwinden. „Nein“, flötete er, „diese Zeiten sind ein für allemal vorbei wir nehmen die Läufer und ihr Anliegen durchaus ernst!“

Die Ausdauercracks aus Ost-und Westeuropa, an eine enthaltsame Lebensführung gewöhnt, sind sich ihrer wenig publikumswirksamen Sisyphosarbeit bewußt. „Natürlich befinden wir uns in jeder Hinsicht auf einem langen Weg, aber wir glauben eben, daß wir als Individuen die anstehenden Probleme angehen können und müssen“, erklärt ein estnischer Läufer.

„Täve“ Schur, Vater des Tour-de-France-Starters Jan Schur, fühlte sich sichtlich wohl inmitten der Neuankömmlinge aus der UdSSR. „Frieden und Umweltschutz sind Herzensangelegenheiten von uns Sportlern. Wir müssen sie den Leuten näherbringen! Daß er dabei auf hohe Hürden stoßen dürfte, wurde Sonntag früh offenkundig. Die zahlreicher werdenden Spaziergänger latschten spöttisch oder desinteressiert am Rednerpult vorbei. Auf der Karl -Liebknecht-Straße bildeten sich währenddessen die ersten Autopulks. Nach 15minütigem Aufenthalt im Ostteil der Stadt brachen die enthaltsamen Vierzig auf zur ihrer nächsten Etappe. Zielort: Göteborg.

Zurück blieben ein verzückter Gustav Schur und der Friedrichshainer Fanfarenzug. Die nicht Dabeigewesenen sehen sich auf direkte Art mit den Gründen der Staffette konfrontiert - spätestens an der rußumhüllten Fußgängerampel um die Ecke. Und den Joggern bleibt die Hoffnung auf einen „großen Bahnhof“, wenn sie am 26. Juli in Den Haag eintreffen werden.

Jürgen Schulz