Begräbt der Fall der Mauer Rot-Grün in Berlin?

■ Ein Plädoyer für das „schlechte Neue“

KURZESSAY

„Nicht das gute Alte, sondern das schlechte Neue interessiert uns.“ Ach, hätten doch SPD und Grün-Alternative in West-Berlin sich diese Weisheit Mao Tse-tungs zu Herzen genommen. Sie wären in den letzten Monaten nicht von einer Regierungskrise in die nächste geschlittert. Von Anbeginn an hat dabei die AL das gute Alte in den Mittelpunkt ihrer Politik gestellt und ist vom Neuen - ob es nur schlecht ist, sei an dieser Stelle einmal dahingestellt - einfach überrollt worden.

„Am Anfang lief es so schön: im RAF-Hungerstreik vermittelt, die Deeskalation zwischen Polizei und Szene in Kreuzberg vorangebracht - und dann kam der 9. November. Von da an waren wir in der Opposition“, so die Fraktionsvorsitzende der AL, Renate Künast. Und die Stimmung in der AL jetzt beschreibt sie so: Die Stadt wird so grauenhaft, daß sich viele aus der Szene überlegen, abzuhauen.

Warum eigentlich nicht? Neue Zeiten brauchen mutige Leute. Und die von Renate Künast beschriebene Stimmung trifft lediglich den Parteiapparat; weder die Mitglieder noch die Wähler wollen aus der Koalition heraus.

Das Erfolgskonzept Walter Mompers hingegen entspricht schlicht der Art und Weise, wie Sozialdemokraten überall regieren, es steht im Zentrum jeder Kommunalpolitik. Seit dem 9. November 1989 wird Momper - samt seinem „Küchenkabinett“, zu dem Bausenator Nagel, Finanzsenator Meisner und Senatssprecher Kolhoff (alle SPD) zählen - von der Frage getrieben, wie das städtische Haushaltsloch gestopft werden kann. An der Beantwortung dieser Frage entscheidet sich für die SPD die Zukunft von Rot-Grün in der Stadt.

Tatsächlich ist mit dem Schleifen der Mauer die ökonomische Misere der Stadt ins Blickfeld gerückt. Diese Misere gab es zwar schon während der gesamten Nachkriegszeit, aber erst mit deren Ende wird sie zum Problem. Die Stadt war seit 1948 überhaupt nur lebensfähig durch die enormen Finanzspritzen aus Bonn. Über diese lapidare Feststellung hinaus hat sich die Stadtöffentlichkeit kaum darum geschert. Schließlich war man sich der politischen Lobby in Bonn sicher. Jahr für Jahr sorgte sie für den Geldsegen aus Bonn. So entstand der Berliner Sumpf.

Doch mit dem Verschwinden des Insel-Daseins, der Wiederentdeckung Potsdams, Brandenburgs und dem Auftauchen der Polen, die hier ihre kleinen Schwarzmarktgeschäfte machen, wächst das Bewußtsein, in einer Stadt zu leben, die sich gegen das Umland behaupten muß - auch und gerade ökonomisch. Vielleicht entsteht überhaupt erst jetzt in der Konkurrenz zwischen Stadt und Land so etwas wie Angst vor und Bewußtsein von der Stadt, der zukünftigen Metropole Berlin.

Die Hauptstadtdebatte, Olympia 2000, die Ansiedlung von Daimler-Benz am Potsdamer Platz - all dies ist der verzweifelte Versuch, durch Wirtschaftsansiedlung und neue Legitimation für Subventionen aus Bonn den ökonomischen Bankrott der Stadt zu verhindern. Verwaltung als Politik mehr ist das nicht.

Alle Weltstädte haben permanent unlösbare Finanzprobleme. Warum soll Berlin daran zusammenbrechen? Vielleicht entsteht erst über den extremen Gegensatz von Armut und Reichtum - ob uns das paßt oder nicht - eine Metropole?

Die AL kann mit dieser Haushältermentalität nichts anfangen. Sie lebt noch ganz in der eigemauerten Stadt. Ökologischer Stadtumbau ist für sie gleichbedeutend mit dem Rückbau von Straßen. Und „Konkurrenz“ - ob nun mit dem Umland oder anderen Städten - bleibt für sie ein unbekanntes Phänomen.

Die Politik der AL geht immer noch von der Stadt als Nischengesellschaft aus. Und dort, wo sich dieses Bewußtsein mit der Wirklichkeit der Zeitenwende des 9. November bricht, ist die eigentliche Bruchstelle für die Koalition - wenn nicht in diesem Sommer, dann nach der Gesamtberliner Wahl am 2. Dezember. Gerade wegen der „Novemberrevolution“ wissen linke Sozialdemokraten und AL nicht mehr, was sie politisch eigentlich wollen.

Wenn die politische Philosophie eines rot-grünen Bündnisses sich allein darauf stützt, daß die Lösung aller sozialen Probleme über die richtige Distribution öffentlicher Mittel möglich sei, und diese - zumal in Berlin - so knapp bemessen sind wie nirgendwo sonst in der West-Republik, dann mag die These stimmen, daß Rot-Grün nur dort funktioniert, wo die Kassen voll sind.

Aber verbirgt sich hinter solchem Politikverständnis nicht ein arg reduzierter Wohlstandsbegriff von Demokratie? Ist es wirklich das non plus ultra gerader grüner Politik, sich dort, wo sie mit der Armut nicht fertig wird, aus der Macht zu verabschieden und lieber aus der Opposition heraus den Protest zu organisieren?

Ökologie heißt ja mehr als saubere Luft, klares Wasser und Müll-Recycling. Damit ist auch ein demokratisches Prinzip gemeint, eine Regel, wie politischer Streit öffentlich ausgetragen wird. AL und Grüne sind ja gerade angetreten, um Entscheidungskompetenzen aus der politischen Klasse zurück in die Gesellschaft zu verlagern. Wie können sie sich dann aus der Organisation dieses Prozesses verabschieden, obwohl sie sie durch eine rot-grüne Mehrheit in der Stadt mit realisieren könnten?

Neben allen großen Veränderungen in der Stadt rächt sich heute, daß die AL vor anderthalb Jahren lediglich mit viel Glück und einer hauchdünnen Mehrheit in die Koalition hineingestolpert ist. Sie hat diesen Wechsel von der Opposition an die Macht bis heute nicht wirklich verkraftet. Jetzt, wo schon wieder Wahlkampf ist und es darum ginge, sich ein Votum für Rot-Grün bei der Bevölkerung zu holen, geht der AL die Luft aus. Dabei sind ihre Gewinnchancen rein rechnerisch gestiegen. Denn nimmt man Ost -Berlin hinzu, dann haben die Konservativen keine realistische Chance, einen neuerlichen Machtwechsel herbeizuführen.

Was die AL bisher gehindert hat, die Politik zu machen, die ihren Zielen angemessen wäre, war die verpuppte sozialistische Ideologie, der Linksradikalismus als Lebenshilfe. Jetzt lebt sie in einer Zeit, die sie zwingt, diesen Kern zu überwinden. Braucht sie dafür eine ganze Legislaturperiode, dann wird sie gemeinsam mit der PDS in den Bunker gehen. Gelingt ihr der politische Aufbruch schon im Wahlkampf, dann könnte Rot-Grün neue Schubkraft bekommen.

Max Thomas Mehr