„Wird der Täter überhaupt bestraft?“

■ West-Berlin gibt Verfahren im Fall Azhar an Potsdamer Bezirksstaatsanwaltschaft ab / Pakistani starb vor einem halben Jahr an den Folgen eines rassistischen Überfalls / Täter lebt unbehelligt in der DDR

West-Berlin. Das Gedächtnis der Öffentlichkeit ist bekanntermaßen kurz - die Mühlen der Justiz mahlen bekanntermaßen langsam: Vor einem halben Jahr starb der pakista- nische Wissenschaftler Mahmud Azhar an den Folgen eines rassistischen Überfalls. Der Täter lebt nach wie vor unbehelligt in der DDR. Wie Justizpressesprecher Cornel Christoffel gestern auf Anfrage der taz erkärte, habe der Westberliner Staatsanwalt einen Haftbefehl als „unverhältnismäßig“ eingeschätzt. Vorgestern nun gab er das Verfahren - einhelligen Berichten über das Chaos in der DDR -Justiz zum Trotz - an die Potsdamer Bezirksstaatsanwaltschaft ab. In West-Berlin, so erklärte Christoffel, gehe man von einem „rechtsstaatlichen“ Verfahren in der DDR aus.

Argwohn und Empörung hat sich unterdessen bei den Mitgliedern des Aktionskomitees Mahmud Azhar breitgemacht. In den letzten Monaten, so Peter Controweit vom Komitee, sei von seiten der Justiz nichts passiert „außer der Drohung, das Verfahren abzugeben“. Die gesamte Justiz in der DDR sei im Umbruch, „möglicherweise wird der Täter gar nicht bestraft“.

Mit den Worten „Deutschland den Deutschen“ hatte der Deutsche am Abend des 7. Januar Azhar vor dessen Arbeitsplatz an der Freien Universität angegriffen und zusammengeschlagen. Azhar starb einige Wochen später - laut Obduktionsbericht an einer Lungenembolie in Folge des Überfalls.

Noch am Tatort hatte die Polizei den angetrunkenen Deutschen damals festgenommen. Der Haftrichter ließ den Täter jedoch wieder laufen, da Mahmud Azhar zu diesem Zeitpunkt noch lebte und eine Untersuchungshaft als „unverhältnismäßig“ eingeschätzt wurde.

Auch Rechtsanwalt Dieter Kierzynowski, der die Angehörigen Azhars vertritt, befürchtet, daß die DDR-Justiz zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist, als daß ein rechtstaatliches Verfahren möglich wäre.

Durch die taz überhaupt erst von der Abgabe des Verfahrens informiert, wollte er die Entscheidung vorerst nicht bewerten und zunächst mit der Staatsanwaltschaft sprechen: „Vieleicht hat die Gründe dafür.“

Der Akte des Staatsanwaltes liegen jetzt auch Gedächtnisprotokolle von Bekannten Azhars bei. Ihnen hatte der Überfallene im Krankenhaus von den rassistischen Sprüchen des Täters erzählt. Aus Angst vor Repressalien hatte Azhar dies der Polizei bei der Vernehmung verschwiegen.

Die Westberliner Staatsanwaltschaft hat die Gedächtnisprotokolle, einziger Beweis für die rassistische Motivation des Überfalls, jedoch nicht überprüft. Für die Anklage, so der Justizpressesprecher, seien sie „nicht erheblich“. Die Parolen seien allenfalls als „Beleidigung“ zu werten und im Vergleich zu Anklage auf „Körperverletzung mit Todesfolge“ unerheblich. Da die Beweiskraft von Gedächtnisprotokollen bei Gericht eher als gering angesehen wird, müßten die Zeugen gerichtlich vorgeladen werden - was nach Ansicht des Aktionskomitees bei einem Verfahren in der DDR „eher unwahrscheinlich ist“.

Rochus Görgen