Ungarns trauriges Industrierevier

■ Das „rote“ Salgotarjan sieht depressiven Zeiten entgegen

Aus Budapest Gregor Mayer

Janos Kadar, der Parteichef, damals noch von der Gloriole des Landesvaters umgeben, fühlte sich hier immer besonders wohl. Das Terrain ist geschichtsträchtig. Schon Bertolt Brecht hatte 1926 den Hungermarsch der Salgotarjaner Arbeiter ein Gedicht gewidmet. 1944 kämpften in den umliegenden Bergen die wenigen Partisanen Ungarns. Nach dem Krieg wurde die durch den Bergbau geprägte Industrialisierung im Tal der Zagyva weiter forciert. Gewaltige Investitionen flossen in die Region, die von den Machthabern in Budapest als das Paradebeispiel sozialistischen Aufbaus gefeiert wurde.

Mythos „Hochburg

der Arbeiterklasse“

Zehn Kilometer hinter Salgotarjan, der Hauptstadt des nordungarischen Komitats Nograd, liegt die Grenze zur Slowakei. Gezogen wurde sie durch den Trianoner Friedensvertrag von 1920, was in „nationalgesinnten“ Kreisen nach wie vor Anlaß revisionistischer Träume ist. Doch in Salgotarjan ging es bis vor dem Ersten Weltkrieg ziemlich international zu. Die Kumpel, die die Braunkohle aus den Gruben des Zagyva-Tals holten, kamen von überall her: aus Galizien, der Slowakei, aus Böhmen und nicht zuletzt aus den Landen „deutscher Zunge“.

In dem Schmelztopf des internationalen Proletariats gärte und bordelte es stets. Früh wurde Salgotarjan zu einem Zentrum der jungen ungarischen Arbeiterbewegung. Die Gendarmen im Dienste des Horthy-Regimes mit ihren Hahnenschwanzfedern auf den Helmen hatten in den zwanziger Jahren alle Hände voll zu tun, um die aufbegehrenden Arbeiter im Zaum zu halten. Und es ist kein Zufall, daß die ungarische Partisanenbewegung, die, obwohl sie es an Aufopferungsbereitschaft nicht fehlen ließ, im Landesmaßstab keine überragende Bedeutung entfalten konnte, hier besonders aktiv war.

Bei den Wahlen von 1945 und 1947 wählte man bis zu 80 Prozent kommunistisch. Unter den Bedingungen der stalinistischen Diktatur Rakosis und des damit verbundenen Personenkults setzten aber jene Mystifizierungen ein, die alle weiteren Entwicklungen in fataler Weise steuerten: Die Industriestadt wurde von den eifrigen Propagandisten Rakosis zur Hochburg der Arbeiterklasse stilisiert.

Die Gorki-Siedlung aus der Nachkriegszeit im Vorort Zagyvapalfalva ist auf den ersten Blick gar nicht unschön. Die Grünflächen dazwischen sind großzügig angelegt. Künstler haben aus Holz wunderschöne Klettergerüste, Schaukeln und Wippen gefertigt - von den Kindern benutzt werden diese Dinge nicht. Auch das schmucke Kulturhaus dient lediglich als Diskothek und Verführstätte für Action-Videos.

„Sozialistische Industrialisierung“

Mit der planmäßigen Industrialisierung der sechziger Jahre setzte eine zweite Welle der Urbanisierung ein. Während seinerzeit die Erschließung der Braunkohlegruben das Proletariat der gesamten Monarchie anlockte, schufen sich die in Salgotarjan und Umgebung angesiedelten Fabriken - das Flachglaswerk, das Hohlglaswerk, das Heizkörperwerk, die Kleiderfabrik und so weiter - ihr eigenes Proletariat aus der umliegenden Bauernschaft. Der damit einhergehende soziale Aufstieg hatte seinen Preis: Reduzierung auf die Kleinfamilie, Vereinsamung, Atomisierung. Die zwei in Alkoholschwaden gehüllten Kneipen in Zagyvapalfalva - die eine an der Mauer zur Glasfabrik, die andere hinter der Kaufhalle - sind schon in den Morgenstunden voll mit Männern, die sich billigen Schnaps und billiges Bier hinter die Binde kippen...

War das Leben eintönig, so war es doch gleichzeitig sicher, mitunter bequem. Zwar wußte jeder, daß sich der Direktor der Glasfabrik, sein Haus unter „Mithilfe“ des Bautrupps errichten ließ, daß die Dienstfahrzeuge des Unternehmens den Ramsch für die Boutique seiner Gattin aus Budapest zu holen abkommandiert waren, doch in Wirklichkeit störte das niemanden, solange sich auch der kleine Arbeiter das Glas für die Veranda seines Einfamilienhauses im Werk „beschaffen“ konnte.

Doch diese Zeiten sind ein für alle Mal vorbei. Der Direktor bastelt bereits an einer GmbH oder AG, in die das bisher staatliche, seit geraumer Zeit aber im großen und ganzen sich selbst überlassene Unternehmen überführt werden soll, um seine Position und vor allem seine fetten Prämien hinüberzuretten. Dem einfachen Arbeiter hingegen wird man empfindlich auf die Finger klopfen, wenn er sich unterstehen sollte, die GmbH (oder AG) zu beklauen.

Die Krise: Angst und Existenzunsicherheit

„Wir streben humane Lösungen an“, beteuert Imre Solymosi, der Personalchef der Salgotarjaner Flachglasfabrik. Darunter versteht er vorzeitige Pensionierungen und einen Aufnahmestopp. „Wir wollen Entlassungen weitgehend vermeiden“, meint er, muß aber zugeben, daß die genannten „humanen“ Lösungen praktisch jetzt schon ausgeschöpft sind. Insgesamt wäre aber der Personalstand des Unternehmens von 7.000 auf 3.500 abzubauen...

Angst und Existenzunsicherheit gehen um unter den Beschäftigten der Glasfabrik. Die Ingenieure und Ökonomen sie wollen nicht unbedingt namentlich genannt werden prophezeien, daß die Firma bald baden gehen wird. Die Kommunikation zwischen den Abteilungen sei beinahe Null, das Management agiere abgehoben von der Realität, Kunden würden vor den Kopf gestoßen, die Qualität der Produkte sinke, der produzierte Ausschuß nehme zu.

Drei Holzbuden am Rande von Salgotarjan, die längst nicht mehr den Anforderungen genügen, bilden das Arbeitsamt des Komitats Nograd. 70 bis 90 Arbeitssuchende entfallen zu Spitzenzeiten täglich auf jeden der drei Sachbearbeiter, erklärt Gyula Fekete, der Vizechef des Arbeitsamtes. 2.100 Arbeitslose sind derzeit in Nograd gemeldet, das entspricht einer Rate von zwei Prozent, was weit über dem Landesdurchschnitt liege. Diese Zahl könnte dramatisch ansteigen, wenn die Kündigungsfrist für die Kumpel der Nograder Braunkohleminen, gegen die das Konkursverfahren im Gang ist, ausläuft. „Als Optimist sag‘ ich, daß die Zahl bei Jahresende 3.000 betragen wird“, meint Fekete.

Reszö Fenyszarosi ist ein typischer Arbeitsloser der „ersten Generation“. Der 42jährige Werkzeugmechaniker ist nämlich nicht Opfer der wohl bald hereinbrechenden Betriebsschließungen, sondern des schleichenden Personalabbaus, der mit denen beginnt, die, wie er, „mit dem Chef nie gut ausgekommen“ sind. An der Qualifikation des Mannes kann es nicht liegen, denn sonst wäre er nicht in Litauen zum Einsatz gelangt, wo im Auftrag eines renommierten bundesdeutschen Unternehmens ein Leichtindustrie-Objekt hochgezogen wurde. Während dieser Zeit - solche Auslandseinsätze laufen über komplizierte Leihverträge, bei denen der ungarische Staat, und wer weiß sonst noch, die Devisen absahnen - blieb Fenyszarosis Arbeitsverhältnis mit der Salgotarjaner Kleiderfabrik bestehen. Als er zurückkehrte, teilte man ihm mit, daß man ihn nicht weiter benötigen würde. Man drohte ihm, ihn auf den Mindestlohn von 5.000 Forint zurückzustufen (natürlich eine ungesetzliche Maßnahme, habe der Mann aber nicht gewußt), wenn er der Kündigung des Arbeitsverhältnisses „im gegenseitigen Einvernehmen“ nicht zustimme. Er ging darauf ein - und hat damit jede rechtliche Handhabe gegen das Unternehmen verwirkt!

Die Gewerkschaften

mit dem Rücken zur Wand

Harte Zeiten stehen bevor, starke Gewerkschaften täten not. Der landesweit rund 3,5 Millionen Mitglieder zählende Gewerkschaftsbund MSZOSZ steckt in einer tiefen Vertrauenskrise, räumt auch Janos Vincze von der Nograder MSZOSZ-Außenstelle ein. Diese sei aber Teil eines allgemeinen Vertrauensverlustes in die Politik und ihre Institutionen. „Immerhin blieben 85 Prozent der Mitglieder in den Gewerkschaften, obwohl jeder frei austreten oder eine eigene Gewerkschaft gründen kann.“ Der Streik als letztes Mittel im Arbeitskampf stehe aber, obwohl rechtlich garantiert, nicht zur Verfügung: „Eine über einen kurzen Warnstreik hinausgehende Arbeitsniederlegung würden wir finanziell nicht durchstehen.“ Erst jetzt habe der MSZOSZ begonnen, für die Streikfonds zu sammeln.

In Nograd ist eine komplette Umstrukturierung des früher nach den Grundsätzen des „demokratischen Sozialismus“ aufgebauten Gewerkschaftsbundes im Gange. „Von 15 hauptamtlichen Funktionären sind wir in der Komitatsaußenstelle zu zweit übrig geblieben“, erklärt Vincze. Die Außenstelle sei keine Zentrale mehr, könne niemandem mehr Weisungen erteilen und spiele eine rein koordinierende Rolle. 70 bis 75 Prozent der Mitgliedsbeiträge blieben bei den Grundorganisationen in den Betrieben, damit deren Unabhängigkeit auch materiell untermauert ist.

Freilich sind auch in Nograd die Angriffe zu verspüren, die sich von verschiedenen Seiten auf den Gewerkschaftsbund richten. Oft werde er als „Relikt des alten Systems“ diffamiert. Das regierende Ungarische Demokratische Forum (MDF) versucht auch hier, sogenannte „Arbeiterräte“ zu propagieren, doch Anklang bei den Arbeitern haben sie bisher nicht gefunden.

Der energische Mittvierziger zeigt dennoch keine Zeichen von Resignation. „Unabhängig von den Angriffen, die von außen kommen, stehen wir vor einer gewaltigen Zerreißprobe. Wenn wir nicht wesentliche Änderungen herbeiführen, in der eigenen Funktionsweise, im strukturellen Aufbau, dann wird sich die Gewerkschaft in Atome auflösen.“

Verklärte

Geschichte

Nograd ist jenes Komitat, wo die kommunistisch gebliebene USAP bei den Parlamentswahlen im März am besten abschnitt. In einzelnen Dörfern rund um Salgotarjan wie Kazar oder Somlyo erreichte sie bis zu 80 Prozent (Landesschnitt: 3,8 Prozent). „Das Einparteiensystem war der größte Fehler der alten USAP, deshalb kamen die ganzen Karrieristen zu ihr“, meint Janos Szigetvarosi von der Salgotarjaner Stadtleitung der USAP. „Wir haben keine der früheren Kader in unseren Reihen, niemanden, der von Extraprivilegien profitiert hätte“, fügt er hinzu. Und die schmerzhaften Erinnerungen an 1956, die den Sozialismus in Ungarn diskredidiert hatten? Szigetvarosi dazu: „Wenn die Arbeiterklasse die Politik der Partei nicht mehr versteht, dann liegt das nicht unbedingt an der Arbeiterklasse.“

1956 hinterließ auch in Salgotarjan seine tiefen, jahrzehntelang verdrängten Spuren. Arbeiter schossen auf Arbeiter: Die, die schossen, waren nach der zweiten sowjetischen Intervention in die sogenannten Bereitschaftstruppen rekrutiert worden, die auf die geschossen wurde, waren Teilnehmer einer Protestkundgebung oder einfach unbeteiligte Passanten. Die Tragödie vom 8.Dezember 1956 forderte an die 130 Todesopfer, als die Bereitschaftstruppen in die unbewaffnete Menge feuerten, nachdem eine - wie sich später herausstellte - Übungsgranate detoniert war. Ein tragisches Unglück meinen die einen, eine geplante Provokation zur Einschüchterung der Bevölkerung, meinen die anderen. Ähnliche Vorfälle ereigneten sich in diesen Dezembertagen überall im Lande - die Führung um Janos Kadar, der eben von den Sowjets zur Macht verholfen worden war, sah sich nach der Verhaftung der Aufstandsregierung Imre Nagys immer noch mit einer breiten Welle von Protesten und Streiks konfrontiert. Vorfälle wie die in Salgotarjan boten einen willkommenen Anlaß, die Anführer der hinter diesen Protesten stehenden Arbeiterräte ins Gefängnis zu werfen.

Im Salgotarjaner Museum der Arbeiterbewegung sieht man von all dem nichts. Die Zeit nach 1945 wird als eine einzige, linear ansteigende Linie gezeigt. Schauprozesse, Stalinismus, der Volksaufstand von 1956, das Blut, das die darauffolgende Konsolidierung anfangs gekostet hatte: als hätte all das nie existiert. Ein einziger idealer Bogen führt von den mutigen Partisanen in ihren Bergen, die Befreiung vom Faschismus, die treuherzig als „Sieg der sozialistischen Revolution“ besungene, mit der skrupellosen Ausschaltung der bürgerlichen Parteien einhergehende kommunistische Machtergreifung zu den Erfolgen des sozialistischen Aufbaus in der neuesten Zeit.

Dennoch wäre es schade um dieses Museum. Es zeigt die Geschichte bis 1945 als das, was sie wirklich war: Die Geschichte von Ausgebeuteten, die Werte und Epochen schufen. Es ist anzunehmen, daß die rechten Parteien, die nach den Gemeindewahlen Ende September in Salgotarjan-Stadt voraussichtlich die Macht übernehmen werden, mit diesem Geschichtsbild kurzen Prozeß machen. Denn der vom MDF verkündete „christlich-nationale Kurs“ erfordert „neue“ Leitbilder: und die finden sich auf dem Horizont von Nation, Christentum, Abendland. Amen, du „rotes“ Salgotarjan!