Kann denn Sünde Liebe sein?

■ Eine Betrachtung über Unfälle, Hasen, Unglücksstädte, Genitales und lockere Schrauben

In der ehemaligen DDR gibt es neuerdings, weil da ja jetzt alles ganz demokratisch geworden ist, eine neue Partei, die setzt sich für die Erneuerung der Sexualität ein. Das lernte ich, als ich neulich meine Cousine in Ost-Berlin besuchte. Wir tranken Kaffee an diesem verregneten Sonnabend abend und starrten in die Röhre. Sie wollen also, daß es erlaubt sei, Pornos zu lesen; auch wohl, welche zu kaufen; und dann auch, daß welche gedruckt werden können. So war eine Konferenz dieser Sexpartei im Fernsehen. Wie es so ist, große Reihen von Tischen, elektronisch ausgestattet, und jeder der Politiker, alle in dunklen Anzügen, hatte viele, viele Pornos bei sich. Die Fernsehkamera streift nun ganz unbeholfen über eine aufgeschlagene Seite von so einem Porno, und da sieht man ganz genau, wie eine Frau - also das muß man sich mal vorstellen!, es geht ja fast gar nicht auszusprechen -, also wie eine Frau da das Ding von dem Mann in den Mund nimmt. Uns stockte der Atem. Brigitte und ihr Freund Egon rufen wie aus einem Munde: „So eine Schweinerei!!!“ Und ich frage nach: „Was die da machen oder daß es den Porno an sich gibt?“ Sie antworten „beides“, und ich mische mich noch mal ein: „Ja, und was ist dabei?“ „So doch nicht“, entschied Brigitte. Egon schien etwas demokratischer zu sein und fand, daß es doch jeder machen könne, wie er wolle.

Danach habe ich mir dort noch die 'Bild'-Zeitung durchgelesen, denn dazu habe ich sonst nie eine Gelegenheit. Auf Seite fünf gab es ein Mädchen ohne Bekleidung oben herum, und irgendeine Besonderheit war mit ihr, auf die es aber gar nicht ankam. Beugt sich da Egon ganz weit über mich, um auch diese Seite möglichst genau zu sehen, und ich muß seinen ganzen Körpergeruch einatmen. Doch in der Demokratie ist alles möglich. Es stand auch eine Geschichte aus Italien in der Zeitung. Folgendes: Ein Pärchen war im Auto und wollte Amore machen, aber „es“ wollten sie nicht tun. Da fuhr ihnen aber ein anderes Auto rein. Bums! machte es, und die Frau wurde schwanger. Nun verklagen sie den Unfallfahrer auf Unterhaltszahlung für dieses Kind, was sonst nicht gezeugt worden wäre. In der Demokratie, eigentlich in der Biologie, ist so vieles möglich, habe ich mir da wieder gedacht.

Nun gut. Empfindet etwa jemand das Bedürfnis, sich weitere naturwissenschaftliche Kenntnisse zu erwerben, sei das Büchlein mit dem Untertitel Gattenpflichten, christlich und ärztlich beleuchtet nochmals erwähnt. Es ist ein Hochzeitsbrevier für Brautleute und Vermählte und erschien 1881 in Bern ind Leipzig im L.-Frobeen's-Verlag. Die Wiederauflage vollbrachte die christlich-ärztliche Verlagsgesellschaft Tübingen; das ist wahrscheinlich der einzige Ort in der Welt, wo dieses Bändchen erhältlich ist. Ich jedoch möchte dringend von einer Reise in diese Stadt abraten, da ich dort drei Jahre sehr unglücklich gelebt habe und jedesmal beim Wiederbetreten des Pflasters der dortigen Straßen Kopfschmerzen bekomme. Geneigte Leser, lassen Sie den Versuch bleiben!

Verständlich ist, daß für Verkehrsexperimente zunächst ein menschliches Gegenüber vonnöten ist. Hierzu nun für heterosexuelle Frauen und Schwule mein Tip, frei nach einer alten Bauernregel: „Wie fängt man Hasen? - Salz auf den Schwanz streuen!“ Gewiß könnte schon das ein Problem sein, namentlich, ob es denn überhaupt ein erstrebenswertes Ziel sei - die Geister scheiden sich überall, wo sie nur können. So las ich in der 'Titanic‘ kürzlich eine öffentliche Debatte zum Thema Penis - pro oder contra? Hieran läßt sich nun abermals die gesteigerte Demokratiefähigkeit unserer heutigen Gesellschaft ablesen; gewiß wird auch die DDR in dem Punkt unserer Westwelt um zehn Jahre hinterherhinken, bis dort mal solche Volksabstimmungsmöglichkeiten eingeleitet werden. Ja, ich war schon froh, hier zu leben, solange es hier noch gab.

In der 'Männer-Vogue‘ stand eine Reportage über potenzsteigernde Mittel, die sich nun die Männer selbst statt Salz auf den Schwanz streuen können. So was wird offensichtlich sehr unterschiedlich gehandhabt, denn in einem Baghwanbuch in einem ehemalig rotumtuchten Laden waren hundert Seiten dem Thema der Hingabe, Liebe und Sexualität gewidmet. Es gab eine große Aufforderung dazu, und alles, was die illustrierenden Fotos zeigten, war Herr Monsieur Baghwan himself, wie er damals noch lebte und allen Menschen in der großen Halle des Glücks und der Anbetung seiner Weißhaarigkeit auf die Stirn faßte, wovon sie ganz ekstatisch wurden und offene Münder und geschlossene Augen hatten. Herr Baghwan hat ja auch in jedem Interview gesagt, daß er Zeit seines Lebens sexuell sehr aktiv war.

Schließlich erstand ich ein apartes Büchlein in einem Frauenbuchladen, den ich sehr gerne mag. Zeiten der Keuschheit heißt es, ja, Keusches Verlangen nennt sich geradewegs ein Artikel darin, in dem schließlich über die höchste Aktualität unserer Zeit reflektiert wird, nämlich Aids. So aktuell ist es auch wieder nicht, sagen alle außer Rosa von Praunheim. Doch lassen wir die Schwulen die Schwulen sein - gestern erzählte mir übrigens einer, er vermeide beim Abschleppen oft Unterhaltungen, damit ihm davon nicht die Lust vergehe ... -, und wenden wir uns wieder den Frauen zu, die ja bekanntlich auch von Männern betroffen sind. Ilse Modelmug hofft in o.a. Buch: „Die Katastrophendrohung durch Aids kann diese Veränderung des Sexualverhaltens bewußt machen (...). Von Interesse sind hier die Anzeichen zum Verzicht auf eine stark genital ausgerichtete Sexualität, wie sie bislang für die Gesellschaft mit ihrem patriarchalen Charakter typisch gewesen ist. Mit dieser Umorientierung liegt die Offenheit und Bereitschaft für eine auf weibliche Sexualität bezogene Sinnlichkeit vor, die für beide Geschlechter neue Erlebnisfelder erschließen kann.“ (Wenn da mal nur nicht ein Auto reinfährt, und es deshalb trotz dem bums! macht, dann wär's mal wieder Essig ...)

Für meinen Geschmack schlägt diese gute Frau einen reichlich abstrakten Haken auf knochentrockenem Gelände, wo sie garantiert auf keinen Hasen treffen wird. Und wenn da ein Kranker am Wegrand läge, würde sie dann sagen: „Hallo, Schatzi, du hast Aids? Na, dann streichel ich dich nur ganz lieb!“ - ??? Ihr Wunsch, aus Aids die psychische Genesung der Geschlechter zu schöpfen, ist doch eine perfide Sauerei. Auch dieses goldniedliche Büchlein erschien in Tübingen, in der „edition diskord“ anno domini 1988. Offensichtlich ist dort ein sehr heißes intellektual-psychosexuelles Klima, denn auch das Konkursbuch entspringt diesem Städtchen, worin die Autoren von Buchrücken bis Buchrücken über ihre „genital fixierte Sexualität“ jammern, ojemine, oje... Ja, sie haben mein volles Mitleid und sind eigentlich fast alle trotzdem lesenswert. Denn auch ich wäre dort beinahe abgestürzt in Tommys Hochbett, so knapp am Abgrund und dabei die damals brandneue Konstantin-Wecker-Musik: „Du bettest dich, so liegst du gut, jetzt nur noch Frau sein und noch Mut ...“

Da lobe ich mir meine Mutter. Sie hat mir nämlich eine Pfeffermühle geschenkt. Hellbraunes, glattes Holz, ein runder, aufrechter Schaft, zwei Ringe und dann oben noch ein rundes, kleines Häubchen, was aber nicht wesentlich über den Hauptteil hinausragt. Ich freue mich, denn schon lange habe ich eine hübsche Pfeffermühle gesucht, und wann freue ich mich schon über ein Geschenk von meiner Mutter? So sitze ich im elterlichen Garten und liebkose das schöne Holz mit meinen Lippen, bis mir plötzlich ein Licht aufgeht.

Die Familie trinkt später Kaffee, meine Mutter stellt stolz ihr Geschenk auf den Tisch, und meine jüngere Schwester plärrt los: „Was ist denn das?“ Ich sage: „Ein Phallussymbol“, und meine Mutter nimmt das Ding und pfeffert es mit aller Kraft in den Garten, hinten in die Büsche, wo bestimmt kein Salz und keine Hasen sind. Als ich abfahre, wieder nach Berlin, fragt sie eindringlich hinterher, ob ich denn auch den Phallus eingepackt hätte, und es braucht über ein Jahr, bis ich ihn zum ersten Mal benutze. Doch nun ist die wichtigste Schraube abgefallen, fiese, große Pfefferkörner fallen heraus, alles wackelt. Ich benutze ihn nicht mehr. Gut getarnt steht er im Küchenbord.

Meine noch jüngere Schwester kennt sich eigentlich im Leben gut aus und hat mir erklärt, daß Lippenstift bei den Prostituierten im alten Rom bedeutete, daß sie es mit dem Mund machten ... Diese Sitte scheint sich heute - der Lippenstift oder das andere - bis in die höchsten Kreise vorentwickelt zu haben. Da habe ich mir überlegt, daß ich mir jetzt mal die Fingernägel rot anmalen will, und dann schenke ich meinem Schätzchen ein Küßchen - auf den Popo, das will ich einfach mal ausprobieren, hoffentlich ist da keine Schraube locker!

Sophia Ferdinand