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... an der Haltestelle: Warten, unbehaust

■ Menschen und Mächte zwischen zwei Straßenbahnen / Studie zur Kultur des Weilchens

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...an der Haltestelle: Warten, unbehaust

Menschen und Mächte zwischen zwei Straßenbahnen / Studie zur Kultur des Weilchens

Sie kommt gleich, die Zehn. Das Wartehäuschen wartet schon. Ein Dicker schlappt heran und schüttelt eine Uhr aus dem Ärmel. Es ist vielleicht drei nach zwölf. Schwerer als alles ist das Warten auf es. Hin und her schlappt der Dicke, die Welt ist jetzt leer bis auf Wartehäuschen und Haltestellenschild, und ein Mensch muß sich irgendwo hinstellen. Der Dicke steht, aber tief in ihm schlappt es weiter. Wellen wälzen sich seine Gestalt hinab, branden in den Zehen, welche sich aufwärts krümmen und die Fersen wippen machen.

Sie kommt gleich, die Zehn. Könnte wärmer sein. Die Haltestelle Am Hulsberg ist eine mit eher geringem Menschenumschlag. Seit wann steht jetzt das Pärchen hier? Höchstens achtzehn, beide. Ganz Leichte. Umtrippeln sich wie Sperlinge. Dann tauschen sie Küsse, in kleinen Rucken. Ich glaube, sie füttern sich heimlich mit fetten Würmern. Der Dicke schaut verstohlen hin und fällt in den aufgeklappten Blick des Mädchens. Nirgends ein Halt.

Wenn wir warten, treten wir aus dem fließenden Verkehr heraus und sind allein und brauchen unverzüglich Hilfe. Die Wartehäuschen auf aller Welt aber verspotten uns nur und scheuchen uns weiter. Eine Ödnis. Bißchen Leben hält sich überall, wie Moos. Muß gleich kommen.

Der Wagen der Gegenrichtung hält. Köpfe, hinter Fenstern aufgereiht, pendeln vor und zurück und klinken wieder ein. Einer steigt aus, stellt sein Kind auf den Boden. Das läuft und kann noch nicht recht und stempelt mit dicken Beinchen die Straße. Das Pärchen steht jetzt vor einem Schaufenster, und Finger umschlängeln Finger. Es ist ein Schaufenster für Möbel und anderes Nistmaterial. Im Wagen die Insassen lassen heraußen die Augen grasen, dann fährt die Bahn an, und die Passagiersblicke springen auch wieder ruckweise voran und tauchen seitwärts in die vorübergleitende Kulisse wie Ruder, und vom Wartehäuschen aus ist es wirklich, als ruderten sie Blick für Blick den Wagen außer Sicht.

Sie kommt aber gleich, die Zehn. Der Dicke schaut noch einmal auf die Uhr, knapp, wie ein Krämer, der eine Portion Zeit abwiegt und wider Willen noch ein bemessenes Weilchen zugibt. Das Pärchen wendet sich um zu mir, unsere Blicke verhaken sich und stolpern wieder auseinander, und dann sehen wir, daß die Zehn schon um die Kurve biegt, und gehen hin und sind, als wäre nichts geschehen, wieder aufgenommen. scha

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