Der Künstler und der Boxer

■ „Das Autogramm“ von Peter Lilienthal, im ZDF, um 23 Uhr

Von Friedrich Frey

„Ausgezeichnete Filme“ - die Doppeldeutigkeit des ZDF -Reihentitels ist bei Peter Lilienthals Filmparabel Das Autogramm so treffend wie sonst selten. Die hintergründige Reflexion über Anpassung und Widerstand wurde 1984 mit einem Bundesfilmpreis in Silber ausgezeichnet und gehört zugleich zum Schönsten, was das bundesdeutsche Kino hervorgebracht hat.

Schauplatz Südamerika: Eine Zugfahrt stimmt ein. Im wiegenden Hin und Her der Waggons sitzt Galvan (Juan Jose Mosalini), der Musiker. Die Kamera blickt aus dem Abteilfenster auf eine weite Landschaft. Ein trauriger Tango hebt an und im scheinbar unendlichen Fluß der vorbeigleitenden Bilder plötzlich eine kurze Szene. Für wenige Augenblicke ist ein alter Mann und ein Kind zu sehen, beide im Schatten eines Baumes. Der Junge spielt auf einem Bandoneon, der Mann hört zu. Galvans Blick fällt auf den Koffer zu seinen Füßen. Er enthält ein Bandoneon. Das Ganze in Bild aus der Erinnerung Galvans. Heute ist der Musiker berühmt, gilt als ein Meister seines Instruments, und der Zug bringt ihn zum nächsten Engagement.

Die Frage, warum er Filme mache, beantwortet Peter Lilienthal mit der Sehnsucht nach einer verlorengegangenen Familie. Die gelte es, vor dem Vergessen zu bewahren. Das Gesamtwerk des in Uruguay aufgewachsenen Regisseurs kreist mal mehr, mal weniger - um die Sehnsucht nach der Harmonie einer Familie oder mindestens einer Freundschaft. Den Wünschen der Akteure aber stellt sich stets eine unwirtliche Realität in den Weg.

Im Film Das Autogramm wird, als der Zug im kleinen Provinzkaff Flores einfährt, der Musiker sofort von einer Militärstreife in Empfang genommen. Ebenso ergeht es Rocha (Angel del Villar), dem Boxer, der wie Galvan vom örtlichen Militärkommandant (Hans Zischler) für ein bevorstehendes Fest engagiert wurde. Die Gelassenheit, mit der die beiden Männer die Unflätigkeiten der Militärs über sich ergehen lassen, zeigt, daß die drückende Militärpräsenz längst alltäglich geworden ist.

Ganz in der Ferne patroullieren zwei Soldaten auf dem Flachdach eines Hauses. Das Bild, scheinbar beiläufig notiert, gehört zum festen Zeichenrepertoire des Regisseurs: hatte Linienthal doch genau dieselbe Einstellung bereits in seinem 1975 entstandenen Film Es herrscht Ruhe im Land verwendet. Dieses Zitieren einer eigenen Szene verweist auf die unveränderte politische Situation in Südamerika zwischen 1975 und 1984. Gleichzeitig wird so Das Autogramm mit dem bisherigen Gesamtwerk verzahnt. Dies ist nicht der einzige Fingerzeig auf frühere Filme. Das ungleiche Paar, der Boxer und der Künstler, logiert in einer kleinen Pension, mit dem Namen „Victoria“, so auch der Titel des Films (La Victoria), mit dem Lilienthal 1973 seinen Südamerika-Zyklus eröffnete.

„Calvan spielt für die Mörder“ - eine Parole, gesprüht an eine Hauswand, als erstes Indiz, daß die Rechnung der Militärbehörde, durch eine Großveranstaltung mit Boxkampf und Tangos das Volk ruhig zu halten, so einfach nicht aufgehen will. Als Galvan sich obendrein weigert, einem Polizisten ein Autogramm zu geben, spitzt sich für ihn die Situation zu. Er, der bis dahin zu allem schwieg, wird nach diesem verzweifelten Versuch, sich zu verweigern, von den Militärs aufgefordert, die Stadt zu verlassen. Ganz anders der Boxer: In seiner naiven Unbekümmertheit läßt sich der eitle Prahlhans vom Vertreter der Macht aushalten und verliebt sich zudem in die Tochter des Festorganisators.

Doch dann die Wende: Rocha sei von den Militärs bestochen, heißt es plötzlich, und der bevorstehende Kampf nur ein abgekartetes Spiel. Def Boxer ist tief in seiner Boxerehre gekränkt. Hatte er den Kampf gegen den Champion der Militärs bis dahin auf die leichte Schulter genommen, so will er jetzt unbedingt siegen. Galvan wird kurzerhand zum Trainer ernannt.

Lilienthals Film gelingt es mit einer für deutsche Filme ungewöhnlichen Leichtigkeit, die Grenzen der inneren Emigration aufzuzeigen und mit viel Sympathie vom absurden, irrationalen Widerstand des Boxers zu erzählen.

Unvermittelt empfindet der intellektuelle Galvan eine Faszination für den einfachen Mann, den er zuvor so abschätzig behandelt hat. Der starrköpfige Ehrenkodex des boxenden Kamikaze symbolisiert für die Widerstandskräfte im Land einen kurzen Moment lang den hoffnungsstiftenden Kampf Davids gegen Goliath. Doch trotz der utopischen Widerstandsallianz zwischen dem Künstler und dem Boxer ist Lilienthal zu sehr Realist, als daß sein David wirklich siegen könnte.