Denken war das Allergefährlichste

■ Die in West-Berlin lebende russische Journalistin Sonja Margolina unterhielt sich mit der in Ost-Berlin lebenden rußlanddeutschen Wissenschaftlerin Jelena Schmidt über die DDR: Wie sie war und wie sie wird

Sonja Margolina: Wie lange lebst du schon in Ost-Berlin, Lena, wo kommst du eigentlich her?

Jelena Schmidt: Ich stamme von jenen Petersburger Deutschen ab, die vor gut zweihundert Jahren dem Ruf der Zarin Katharina II. folgten und sich in Rußland niederließen. Nach der Revolution von 1917 fand sich sowohl meine väterliche wie auch die mütterliche Familie in Nordkasachstan wieder, später dann, nach der Verhaftung, Lager, Verbannung, im Nordural... Meine Eltern lernten sich '47 kennen und heirateten bald. Nach Leningrad konnten sie nicht zurück, und so gingen sie nach Kasachstan, wo sie im kleinen Flecken Issyk bei Alma Ata eine neue Existenz gründeten. In der Klasse waren wir Kinder 44 verschiedener Nationalitäten: Die Geschichte der Stalinzeit in einem Klassenzimmer! Fast alle unsere Lehrer waren hierher verbannt worden. Ein besonders glücklicher Umstand: Wir lebten wirklich freundschaftlich miteinander, eine Internationale der Verbannten.

Nach der Schule wollte ich in Leningrad Sprachen studieren, um Dolmetscherin zu werden. Man machte mir klar, daß ich mich mit meiner nationalen Herkunft da besser zurückhielte. So arbeitete ich einige Jahre auf dem Bau, lebte in Wohnheimen. Dann konnte ich mich aber doch an der historischen Fakultät immatrikulieren.

S.M.: Was war für dich das Schwierigste, als du hierher kamst?

J.S.: Ich mußte das ganze Deutschlandbild der Russen und Rußlanddeutschen korrigieren. Zum Beispiel das mit der Arbeitsethik. Auch der hehre Mythos, die Deutschen seien ein Volk der Philosophen und Denker, den die russische Intelligenz wie ihren Augapfel hütet, wurde gleich in seinen Grundfesten erschüttert. Denken war hier das Allergefährlichste. Offenbar lag das an dem fast nahtlosen Übergang von einem totalitären Regime in ein anderes. Dieser Zustand währt nun gut drei Generationen, so daß vieles, was für eine freie Gesellschaft selbstverständlich und natürlich ist, hier einfach verschüttet ist oder abhanden kam.

S.M.: Kannst du ein Beispiel nennen?

J.S.: Daß dein Chef an dich adressierte Briefe liest, halten viele für völlig normal. Selbst in einer herkömmlichen, nach gesunden Prinzipien organisierten Armee dürfte ein solcher Leitungsstil, wie er hier in wissenschaftlichen Einrichtungen möglich ist, merkwürdig anmuten. Je länger ich den Lebensrhythmus dieser Gesellschaft kennenlernte, um so mehr begriff ich, daß es mit ihr etwas besonderes auf sich haben muß, etwas, das sie beispielsweise von der Sowjetunion unterscheidet. Es ist diese vollkommene Perfektion, diese Geschlossenheit des Sozialismus.

Der Bazillus des Strammstehens

Während in der UdSSR jeder Akt, jedes Vorhaben formal gehandhabt, von niemandem wirklich ernstgenommen wurde, traf hier das Gegenteil zu: Alles, jeder Vorgang verwandelte sich in ein detailliert ausgearbeitetes Ritual. Die Vorstellung, daß jede Anweisung, selbst die idiotischste, auszuführen sei - und dies auch noch unter Akademikern - konnte mich zur Raserei bringen. Die ganze Gesellschaft ist hier von diesem Bazillus des Strammstehens und der Befehlsvollstreckung um jeden Preis befallen. Selbst die Parteiversammlungen fanden im ganzen Land, von der Werkhalle bis zum Akademieinstitut, zur selben Zeit statt: montags um 17 Uhr. Als die Demonstrationen an die Stelle der Versammlungen traten, fanden auch sie an den Montagen nach Feierabend statt.

S.M.: Seit kurzem wissen wir, daß die Stasi vier Millionen Personalakten angelegt hatte. Legt man die Größenverhältnisse des Landes zugrunde, so ergibt sich, daß beinahe jeder zweite im Arbeitsleben stehende DDR-Bürger so oder anders Stasi-Berührung gehabt haben muß. Hat das Auswirkungen auf den Alltag der Menschen gehabt?

J.S.: Das Land brauchte dieses Riesenspitzelnetz gar nicht. Viele sahen im „Melden“ - darunter verstand man die Weitergabe von Informationen über sich und irgendwelche Arbeitskollegen an die Leitung - nichts eigentlich Anrüchiges. Erschreckend sind nicht diese Zahlen, sondern die Einstellung der Menschen dazu als einer Norm. In den meisten Betrieben gibt es eine Arbeitsordnung. Sie enthält bereits den Keim für dieses Meldeunwesen. Der Mitarbeiter soll nicht denken, hat nicht einmal ein Recht darauf, soll keine selbständigen Entscheidungen treffen und ist folglich auch frei von jeglicher Verantwortung für sein Handeln. Im Wissenschaftsbetrieb war es bereits ein schweres Vergehen, eine Arbeit ohne die Erlaubnis der Vorgesetzten zu veröffentlichen.

S.M.: Was bestimmt denn das Arbeitsklima, die Beziehungen der Menschen am Arbeitsplatz?

J.S.: In erster Linie das Verhältnis zur Betriebsleitung. Die Menschen versuchen zwar, sich aus dieser Bevormundung zu befreien, doch stehen sie sich dabei häufig selbst im Wege. Sie haben ein gestörtes Verhältnis zur eigenen Würde. Es kommt ihnen nicht in den Sinn, sie in der alltäglichen Konfrontation mit Vertretern der Betriebsleitung zu verteidigen. Der Mensch fühlt sich nicht als Persönlichkeit, die Grenzen zwischen Anstand und Moral und ihrem Gegenteil, der Verletzung moralischer Verhaltensnormen, sind verschwommen und unklar. Es braucht noch viel Zeit, um sich von diesen Reflexen einer knechtischen Seele freizumachen.

S.M.: Die meisten Ostdeutschen haben doch aber Gelegenheit genug, sich im Westfernsehen zu informieren, unterhalten verwandtschaftliche und freundschaftliche Beziehungen in die Bundesrepublik. Haben sie wenigstens eine entfernte Vorstellung davon, daß die Verhältnisse dort auf ganz anderen Ausgangspositionen beruhen?

J.S.: Viele sind fest davon überzeugt, daß auch im Westen alles kontrolliert wird und Strammstehen eine besondere Tugend ist. Es ist erstaunlich, daß man unabhängig von der aus dem Westen einströmenden Information über die Probleme in der DDR noch immer behauptet: Davon haben wir nichts gewußt. Warum habe ich es dann gewußt?

Das stalinistische Denkschema vom bösen Kapitalismus und der unmenschlichen Ausbeutung, dem Recht des Stärkeren, ist keineswegs überwunden. Ich denke, die Menschen haben die wahrheitsgetreue Berichterstattung deswegen aus ihrem Bewußtsein verdrängt, weil dies eine innere Disharmonie und Verunsicherung schuf und schließlich auch nicht ganz ungefährlich war. Überdies ist eine solche Vorstellung vom Westen die Projizierung von Strukturverhältnissen, wie sie gerade hier entstanden waren.

S.M.: Sprechen deine Kollegen offen über ihre Probleme?

J.S.: Ja, durchaus! Derzeit beherrschen Panik und Hysterie das Bild. Sie wurzeln in den in Kürze bevorstehenden Veränderungen. Die Menschen haben es einfach nicht gelernt, das Geschehen um sie herum nüchtern zu analysieren, ihr Minderwertigkeitskomplex hindert sie daran. Die innere Unfreiheit ist es, die es den Funktionären so leicht macht, dem Durchschnittsmenschen Ängste vor dem andrängenden Kapitalismus einzuflößen.

Comeback der Funktionäre

Es werden Situationen und Stimmungen geschaffen, die diesen Funktionären Vorschub leisten. Gegen das Versprechen, die Betriebsangehörigen vor den Bossen aus Bonn zu schützen, werden sie „demokratisch“ wiedergewählt. Unter solchen Bedingungen werden sich natürlich bei einer Kürzung der Arbeitsplätze jene auf der Straße wiederfinden, die der Betriebsleitung ein Dorn im Auge sind, sich als ungehorsam erwiesen haben und mit ihrer Fähigkeit zum selbständigen Denken nicht hinter dem Berge hielten.

S.M.: Was fürchten die DeDeRoni am meisten?

J.S.: Die meisten von ihnen wissen nicht, was es heißt, auf Arbeitssuche zu gehen. Für die ältere und mittlere Generation kommt das einem Fallschirmsprung gleich. Bisher war alles kalkuliert: vom Kindergarten bis zur Rente.

S.M.: Die UdSSR lebt bereits 72 Jahre mit dem Sozialismus. Dennoch konnte man sowohl zur Stalinzeit als auch in allen späteren Herrschaftsphasen einzelne, höchst merkwürdige Individuen aus den verschiedensten Teilen der Gesellschaft treffen, die sich von der allgemeinen unterwürfigen Masse der Bevölkerung deutlich abhoben. Sie fällten ihre Urteile unabhängig und selbständig, pfiffen auf die Leiter. Entließ man sie, wurden sie eben Heizer, Friedhofsarbeiter. Ich rede nicht von Dissidenten... Gab es etwas ähnliches in der DDR?

J.S.: Ja, aber ganz anders. Allein das gesamte Umfeld machte ihre Existenz praktisch unmöglich. Hier fällst du bereits durch dein Anderssein ein Urteil über dich selbst, stößt dich gewissermaßen selbst aus der Gemeinschaft aus. Ich konnte mich beispielsweise deswegen verhältnismäßig frei bewegen und meine Arbeit behalten, weil alle, Kollegen und Betriebsleitung, fest davon überzeugt waren, daß ich die mächtige Unterstützung der sowjetischen Botschaft besitze. Es schien ihnen unvorstellbar, daß man sich eine innere Unabhängigkeit bewahren kann: sich nicht anschreien ließ, sich davor verwahrte, daß der Leiter in deiner Abwesenheit in deinem Schreibtisch wühlte oder an dich gerichtete Briefe öffnete.

Alles beginnt ja doch mit diesen Kleinigkeiten. Der Mensch, seine Laufbahn, seine Möglichkeiten hingen einzig und allein davon ab, ob dir dein Vorgesetzter gewogen war oder nicht. Deine Kollegen aber stehen immer auf seiten der Leitung.

S.M.: Ich glaube, daß du hier nicht ganz gerecht bist. Es hat auch Leute mit Rückgrat gegeben, nur drängte sie das System mit allen zu Gebote stehenden Mitteln in den Westen ab. Es war gewissermaßen ein ständiges Abfließen von Denkmasse, ausgebildeten Fachleuten, einfach mutigen, furchtlosen Menschen. Nicht jeder geht über die Mauer... Das scheint mir jetzt das eigentliche Problem der DDR -Gesellschaft zu sein. Es hat keine kreative Explosion von innen gegeben, die Schubfächer der Schreibtische waren leer, nirgends glänzende Köpfe, die einen guten Telejournalismus machten. Im Handumdrehen wurden die Fernsehprogramme genauso langweilig wie in der Bundesrepublik, nur provinzieller.

Auch die DDR-CDU ist eine Blockpartei

Alle machten eine Kehrtwendung um 180 Grad und marschieren nun im trauten Verein unter Führung der CDU, die vor noch nicht allzulanger Zeit zusammen mit der SED marschierte. Die CDU-Funktionäre besaßen doch keine geringeren Privilegien als die der SED. Warum wollte übrigens keiner dem armen Honecker Unterkunft gewähren? Und es hat sich niemand gefunden, der gesagt hätte: Laßt ihn doch in Ruhe, laßt ihn in Ruhe sterben.

J.S.: Das ist die Kehrseite der Sklaverei. Solange der Gewalthaber an der Macht ist, zittert man vor Angst, dann aber tritt man ihn genußreich mit Füßen.

S.M.: Wenn ich das richtig sehe, so nahm die DDR unter den Ostblockstaaten eine besondere Position ein. Einerseits kamen die Rohstoffe aus der UdSSR, andererseits wurde sie von der Bundesrepublik gestützt. Und auch im einzelnen, privat, erhielten viele DeDeRoni von ihren Verwandten bzw. von kirchlichen Einrichtungen jährlich Gaben im Wert von einer Milliarde D-Mark. Mit anderen Worten: Sie haben nie wirklich nur von dem leben müssen, was sie selbst erarbeiteten.

J.S.: Und trotzdem waren sie sehr stolz auf ihre Erfolge. Es bildete sich ein Überlegenheitsgefühl heraus, zum Beispiel gegenüber den „bettelarmen“ Polen oder den Russen, die ja „nicht arbeiten können“. Noch immer begreifen viele nicht, daß ihre Wirtschaft gewissermaßen eine fiktive, eine Scheinwirtschaft gewesen ist. Jemand hat scharfsinnig das Wort vom „Volk der Trittbrettfahrer“ geprägt. Selbst die Armee ist weitestgehend von der UdSSR getragen worden, und alle waren zufrieden damit.

S.M.: Die Gesellschaft lebt also noch immer außerhalb der Realität. Sie meidet die Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit, mit der persönlichen Umwertung des eigenen Lebens. Kann es dabei nicht geschehen, daß unter der massiven Hilfestellung der Bundesrepublik Millionen von der einen Irrealität in die nächste stolpern? Der Wohlstand, der sie erwartet, kommt zumindest in den nächsten Jahren nicht durch den Beitrag und den Fleiß jedes einzelnen. Es handelt sich lediglich um einen finanztechnischen Vorgang, den politische Verhältnisse diktierten, und die Menschen wechseln mit ihrem aus dem Totalitarismus stammenden Bewußtsein, mit all ihren Ansprüchen, mit ihrer verlorenen oder unbrauchbaren fachlichen Qualifikation und den unangemessenen Ambitionen in die neue Gesellschaft. Hierin besteht, so scheint es mir, eine ernsthafte Gefahr.

Wie wird sich dieser Übergang zur Marktwirtschaft für den einzelnen darstellen? Wird er ihn als Schock erleben? Oder wird er versuchen, sich diese Welt anzupassen?

J.S.: Die Grundstimmung scheint in einem Ruhebedürfnis zu liegen. Man will nicht aus der Bahn geworfen werden. Vor allem möchte man nicht selber denken müssen, nicht selber entscheiden und für sich verantwortlich sein müssen. Die Menschen fürchten Selbständigkeit und Verantwortung. Eben aus diesem Grunde haben sie sofort vergessen, was vor dem 9. November gewesen ist.

S.M.: Hätte der Vereinigungsprozeß langsamer voranschreiten sollen?

J.S.: Für die Menschen wäre es, glaube ich, besser gewesen. Jede Eingewöhnung braucht Zeit. Vor allem trifft dies für eine so radikale Umwälzung im Bewußtsein der Menschen zu. Wie kommentierte doch ein DDR-Professor: „Jetzt dürfen wir denken.“

S.M.: Warten wir also auf das nächste Kommando. Aus dem Russischen

von Bernd Func