Wütende Proteste in Balakowo

■ Am Standort der Atomzentrale wehrt sich die Bevölkerung gegen die Zusammenballung von acht Reaktoren / Bürgermeister gegen inhaftierte Blockierer ausgetauscht

Aus Balakowo Lutz Mez

Am Standort der Atomzentrale im russischen Balakowo an der Wolga eskaliert der Streit um den weiteren Ausbau des weltweit größten Nuklearkomplexes. Mit Hungerstreiks, Blockaden und Demonstrationen wehrt sich die örtliche Bevölkerung aus der nur acht Kilometer vom Atomkraftwerk gelegenen Großstadt Balakowo. Schon die Nähe zu der 200.000 Einwohner zählenden Stadt verstößt gegen die Vorschriften, die eine Entfernung von mindestens 25 Kilometern verlangt.

Bei Balakowo sollen insgesamt acht Meiler vom größten sowjetischen Reaktortyp WWER1000 konzentriert werden. Drei Blöcke sind schon in Betrieb, Block 5 und 6 sind im Bau, Block 7 und 8 im Projektierungsstadium.

Am 26. April, dem Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl, hatte die Protestwelle in Balakowo begonnen. 50.000 Einwohner unterschrieben einen Forderungskatalog zur Abschaltung des Atomkraftwerks. Eine kleine Aktionsgruppe aus der Millionenstadt Saratow, rund 140 Kilometer vom Standort entfernt, organisierte Blockaden. Vorbild war die Aktion gegen eine Chemiefabrik in Tschapajewsk, deren Bau im Sommer 89 verhindert werden konnte. Mit einem „Protestlager“, unmittelbar am Atomkraftwerk, wurde versucht, die Bevölkerung zu aktivieren, die den Protest mit Lebensmittelspenden unterstützte. Von den 200.000 Einwohnern in Balakowo fühlen sich allerdings etwa 70.000 über ihre Arbeitsplätze direkt oder indirekt mit dem Atompark verbunden.

Nach Diskussionen mit Betreibern und Behörden und Informationskampagnen in Betrieben und in der Bevölkerung demonstrierten Ende Juni mehrere tausend Einwohner gegen die Atomzentrale. Die Parolen waren aber nicht nur gegen das AKW gerichtet, sondern ebenso gegen die KPdSU und „die Behörden“. Der sofortige Bau- und Projektierungsstopp wurde verlangt und die Einsetzung einer unabhängigen Untersuchungskommission, ebenso die Abhaltung eines Referendums über die Abschaltung der Meiler.

Nach der Demonstration wurden in einigen Fabriken Streikkomitees gegründet, und dem Exekutivausschuß des Stadt -Sowjet von Balakowo wurde eine Frist bis zum 15. Juli gesetzt, um die Forderungen der Demonstration zu beantworten.

Nachdem keine Reaktion kam, blockierten am Stichtag mehr als 1.000 wütende Einwohner die Zufahrtswege zum Atomkraftwerk. Einige Teilnehmer wurden dabei festgenommen und inzwischen im Schnellverfahren zu 15 Tagen Haft verurteilt. Als Antwort traten die Verhafteten und einige Teilnehmer des Protestlagers in den Hungerstreik. Diese Aktion fand in den Zellen, aber auch direkt vor dem Gebäude der Bezirksverwaltung statt.

Am 17. Juli demonstrierten nochmals 300 Teilnehmer vor dem Verwaltungsgebäude in Balakowo. Der Vorsitzende der Stadtexekutive (einem Bürgermeister vergleichbar) und der Ankläger wurden von den Demonstranten eingekreist, um ihnen mitzuteilen, daß sie erst wieder freigelassen würden, wenn zwei der Inhaftierten freikämen. Dieser Forderung wurde entsprochen und der Hungerstreik anschließend ausgesetzt. Schon am 18. Juli wurde der Hungerstreik aber wieder aufgenommen, nachdem es die Behörden abgelehnt hatten, die Blockierer straffrei ausgehen zu lassen. Daraufhin wurde das Atomkraftwerk am Donnerstag letzter Woche erneut blockiert. Am selben Tag mußten vier der Hungerstreikenden von der Ambulanz ins Krankenhaus gebracht werden. Ein Ende der Aktionen ist nicht in Sicht. Ermuntert fühlen sich die Demonstranten durch eine Meldung der 'Iswestija‘. Sie berichtete am Dienstag, daß bisher in der Sowjetunion wegen des wachsenden Widerstands aus der Bevölkerung Planung und Bau von insgesamt 39 Atomkraftwerken eingestellt worden sei.