Wortschlacht um die „Hauptstadt Kreuzberg“

■ Bayerns Ministerpräsdident Max Streibl eröffnet die neue Sommeroffensive in der Hauptstadtfrage

Die Wortschlacht um Berlin hat begonnen. „Eine Hauptstadt Kreuzberg“ sei das letzte, was man haben wolle, erklärte schaudernd Bayerns Ministerpräsident Max Streibl. Wer kann's ihm verdenken. Der Kreuzberger Autonome war schließlich fester Bestandteil im Gefühlshaushalt des Bundesbürgers. Ohne diesen garantierten Gegensatz zum beturnschuhten Kapuzenmann konnte sich die bundesrepublikanische Normalität gar nicht so richtig definieren. Realitätsnähe schadet da nur.

Auf jeden Fall muß man Streibl dankbar sein. Er hat in schöner landsmannschaftlicher Offenheit die große Koalition der rechten und linken Berlin-Hasser zur Sprache gebracht. Da gibt es nicht nur Koinzidenzen, sondern Wahlverwandtschaften unter den politischen Gegnern, die Streibl vorbildlich zusammengefaßt hat: Hauptstadt Berlin, das sei der Nationalstaatsgedanke, die Wiederkehr Großdeutschlands, die Vergegenwärtigung der Nazi -Vergangenheit, die Nähe zum „Mob der Straße“, zu Massenprotesten.

Diese Liste der Schrecken läßt sich erweitern, und an die denken die Herren in Wahrheit: in Berlin ist die Not des Ostens, ist die wirtschaftliche Katastrophe der DDR, sind die wandernden Völkerschaften aus Osteuropa.

In Bonn kann der Politiker aus dem Bundeshaus gehen, ohne von bettelnden Roma enerviert zu werden. Auf der Rheinpromenade darf sich die Seele lösen. Das friedliche Tuckern der Rheinschiffe ist ja so angenehm. In Berlin hat man die deutsche Vereinigung im Klartext. Die Trümmer stoßen roh aufeinander, die Trümmer von Kriegszeit, Frontstadt und die Trümmer des Realsozialismus drum herum.

Prompt haben sich die Berliner christdemokratischen Politiker Diepgen, Lummer und Felicke über die Niedertracht und die Beleidigung des Bayern empört und sich bemüht, die guten Seiten Berlins hervorzuheben. Falsch, die bedrohlichen Seiten Berlins sind die guten Seiten der Hauptstadt. Berlin, das ist die Realität und Bonn ihre Abwehr. Wer sich für Bonn entscheidet, entscheidet sich für den Anschluß; wer sich für Berlin entscheidet, entscheidet sich für die Vereinigung. Die Folgen der Revolution in Osteuropa sind in Berlin wirklich geworden. Eine Hauptstadt Berlin allein trägt der Tatsache Rechnung, daß die osteuropäische Not auch Moment der Innenpolitik des vereinten Deutschlands ist. Das genau macht angst.

Klaus Hartung