Film als textile Philosophie

 ■ Zum Tod von Sergej Paradshanow

Von Oksana Bulgakowa

Alles, was er erzählte, war höhnisch, lustig, atemberaubend und unwahr: ein ewiger Mystifikator, ein exzentrischer Wahrsager, ein sich am self-made-Dekorativen berauschender Ästhet und bissiger „De-Ästhetisateur“ sowjetischer Mythen. Obszöner Selbstdarsteller und naiver Märchenerzähler Sergej Paradshanow ist tot. Gestorben an Krebs, 66jährig. Ein Armenier aus Georgien, aus Tbilissi, wo er in dem alten Haus seines Vaters ohne Telefon und Wasserleitung in der Kote-Meschi-Straße lebte.

„Ich habe mit langen Unterbrechungen gearbeitet. Mal währten sie sieben, mal fünfzehn Jahre. Entweder sitze ich im Gefängnis oder leide an Unproduktivität. Sieben und fünfzehn Jahre - das ist schon eine Epoche... Da Symbolik, hier Perestroika. Jetzt schwimme ich auf der Welle sogenannter allgemeiner Anerkennung. Ich könnte in Deutschland Faust verfilmen, Venedig bietet mir die Göttliche Komödie an, Amerika Hiawatha, die Ungarn kommen mit mit ihren Epen, die höchste Ehre aber hat sich die Ukraine ausgedacht: Das Igorlied. Ich bin jetzt 64... Woher die Kraft nehmen? Man sagt mir: Sie können nun reisen und alles nachholen... Was soll ich mit 64 herumreisen...? Ich habe 23 Drehbücher fertig, die nicht realisiert sind, und sechs noch nicht aufgeschrieben. Jetzt wurden in der Ukraine drei davon gemacht. Mit 64 sollte man an Gott denken, nicht an den nächsten Film. Wir sind alle ziemlich verbraucht, und das Leben endet früh.“ Ihr erschlagt mich mit eurem intellektuellen Geflüster, meinte er zu den Filmkritikern. „Das Interview mit mir ist für euch amüsante Koketterie, Sensation. Nehmt lieber meine Drehbücher, lest sie, lest meine Beichte, veröffentlicht das - es ist nicht zum Kichern!“

Die Beichte - über seine Jahre im Gefängnis - wollte er später machen. Statt dessen drehte er Aschik Kerib - ein bezauberndes, „für die Kinder der Welt; mein reinster Film“.

Kino der Wunder, Schwatz-Kino , wie er das „Genre des sowjetischen Films“ definierte.

Während Mitte der sechziger Jahre im Mosfilm-Studio viele junge Regisseure um den dokumentaren Stil (echte Straßen, echte Gesichter, echte Probleme) rangen - wider die steife Ateliertheatralik der Fünziger, wurde im Kiewer Dowshenko -Studio, ganz ohne Vorankündigung und ästhetische Manifestation, ein völlig anders gearteter Film gedreht, Schatten vergessener Ahnen, der sofort international Furore machte, einen neuen Namen in die Weltfilmkunst einführte und für zahlreiche Nachkommen im selben Studio sorgte, die die Entdeckungen vervielfältigten und (wie es bei der Vervielfältigung nunmal passiert) ihre scharfen Konturen vergröberten. Die fleißigen Schüler waren zunächst bei dem Meister als Kamaraleute, Schauspieler, Assistenten tätig. Nichtsdestotrotz schien Sergej Paradshanow unnachahmbar und im sowjetischen Film elternlos. Höchstens Dowshenko konnte als entfernter Onkel herangezogen werden. Zur Beruhigung wurden sie rasch mit dem Etikett „poetische Filmemacher“ versehen. Paradshanow aber ließ sich nicht beirren und machte die nächsten zwanzig Jahre nichts anderes als - sich immer wieder selbst zu zitieren und zu wiederholen.

Dabei waren die Pausen zwischen den Fimen groß. Zu groß. Mal sieben Jahre, so etwas wie Berufsverbot, mal fünfzehn Jahre - davon die meiste Zeit im Gefängnis, in Isolationshaft, mit drei Anklagepunkten: Kunstschmuggel, Devisenhandel, Homosexualität. „Ich soll 340 Kommunisten vergewaltigt haben“, erzählte er später einer italienischen Zeitung. Lili Brik, die berühmte Muse von Vladimir Majakowski, hatte in ihren letzten Lebensjahren eine zähe Kampagne für seine Befreiung geführt. Ihr Schwager Louis Aragon repräsentierte darin die „internationale öffentliche Meinung“. Und irgendwann wurde Paradshanow freigepreßt und machte, bevor er starb, noch zwei Filme. Ohne die frühen Arbeiten - ein konventioneller Märchenfilm, Produktionskomödie, ein paar Melodramen, in denen der Paradshanow nicht zu erkennen ist - zählt sein Oeuvre nur viereinhalb Filme. Seit Schatten vergessener Ahnen (1965) steht sein Name fest in der Liste jener wenigen Filmregisseure, die sich des Mediums konsequent nicht als „Geschichtenerzähler“ oder zur Massenunterhaltung bedienen, sondern es als eine subjektgebundene Kunst betrachten. In den wenigen Werken, die ihm zu machen vergönnt war, kreierte er eine unverwechselbare Filmwelt, die anscheinend allen Vorstellungen, was Kino ist und was es nie sein darf, widerstrebte. Er verfehlte die Standards der Filmklassik, bis er selber zum Klassiker wurde. Seine Bilder waren wie stilisierte Miniaturen: archaisch, einen Augenblick fixierend, wo doch gerade Bewegung das Phänomen des Films ausmachen soll. Metaphorische Rätsel, theatralische Pantomimen, Ballettchoreographien.

Montage spielt bei ihm keine Rolle. Jede Einstellung wirkt gesondert, jede Komponente des Bildes scheint mit „Bedeutung“ überlastet. Alles ist wichtig: Die Symbolik der Farbe und des Kostüms, Symbolik der Dichtung, die als Vorlage dient, Zeichen der Kulturen und willkürliche Autorensymbole, die nicht alle entschlüsselt werden können, deshalb war der ganze Film vom Nebel der geheimnisvollen Vieldeutigkeit umhüllt. Das Bild blieb statisch, der Raum betont flach, die Gestik der Darsteller ritualisiert. Es gab keine alltägliche Handlung, keine Fabelführung, keine Erklärungen. Schönheit an sich, ohne Literatur, Logik und Ideologie. „Felix“, den ersten europäischen Filmpreis von 1988, bekam sein Aschjik Kerib für die beste Ausstattung. Als Album ästhetischer Muster. In dieser dekorativen Schönheit hat Paradshanow sich auch in den langen Jahren ohne Arbeit üben können - mit seinen Collagen aus alten Handschuhen, Spiegelsplittern, Flicken. Einen „Ästhet aus Altstoffen“ nannte ihn ein Kritiker. Die Schönheit entstand am Drehort aus dem Nichts - aus in Eile übergestrichenen Masten, glitzernden Stoffetzen, alten Spitzen... Paradshanow machte seine Collagen nicht nur aus verschiedenen Materialien, er ging zugleich sehr frei mit verschiedenen Kulturen um. Lange war man geneigt, in den Filme Paradshanows das „echte“ nationale Kolorit, eine authentische Restaurierung des vergangenen und vergessenen Lebens zu bewundern. Doch die Nationaliäten der Helden wechselten (Ukraine in Schatten vergessener Ahnen und Armenien in Sajat Nowa/Farbe des Granatapfels, Georgien in Legende der Festung Suram und Persien inAschik Kerib) - die Filme allerdings, ihre Farben- und Autorensymbolik, blieben davon unberührt. Auch gab es in den jeweiligen geographischen Regionen immer wieder Proteste (dies sei kein Georgien und jenes nicht die „wahre“ Ukraine). Die „Echtheit“ des nationalen Kolorits entpuppte sich als imaginäre, ausgedachte, mystifizierte Exotik. Doch was jeden Paradshanow-Zuschauer immer wieder fasziniert, ist die betont dekorative Schönheit der Bilder, ihr farbliches Kolorit (die reinen Grundfarben - rot, blau, gelb, schwarz), ihr Geheimnis, ihre exotische Theatralik.

Aschik Kerib war der erste Film nach Schatten vergessener Ahnen, der ohne Qualen, Verbote, Erniedrigigungen, Skandale, Druck „zur Welt“ kam. Dabei imitiert Paradshanow kein „Kino“, er stellt sich aus. Und parodiert sich selbst, den eigenen „textilen“ Stil. Aschik nimmt einer Personnage den angeklebten Schnurrbart ab und klebt ihn sich an, die Pagen spielen mit Plaste-MPs aus einem heutigen Kinderkaufhaus, auf „alten“ Felsenzeichnungen entdeckt man plötzlich eine „Singer„-Nähmaschine. Aschik wird von einem Stofftiger verfolgt, aus dem abgeschlagenen Kopf fließt kein Blut, sondern ergießt sich ein endloses rotes Tuch - wie aus dem Ärmel eines Zauberkünstlers...

Frappierend, wie dieser dekorative „textile“ Regisseur mit sehr einfachen Mitteln in einem nicht-narrativen, stilisierend naiven Film tragische und philosophische Inhalte zu transportieren vermochte. Tod und Opferbringung, Verrat und Glaubensverlust, Liebe und Vergessen. Alle seine Filme endeten an der Schwelle des Todes. Und waren von einer tragischen Lebensauffassung durchdrungen. Diese Erkenntnis stand in krassem Widerspruch zu der prächtigen, genußvoll ausgestellten Schönheit seiner fragilen, vor der Kamera erschaffenen Filmwelt. Und sorgte für Spannung. Nur Aschik Kerib („dem Andenken Tarkowskis gewidmet“) wurde unerwartet zur Glücksvision, der Film endet mit der Hochzeit der Verliebten und einem Wunder, die blinde Mutter kann wieder sehen. Doch das strahlende Märchen wurde von einem monotonen, gefühllosen Erzähler kommentiert. Die Wunder waren Filmwunder. Was als echtes Wunder gelten sollte, war der Film - Kino - selbst, und von diesem Glauben werden wohl immer neue Pilger erfaßt, die in die Vorstellungen drängen, um dem Filmmythos Paradshanow zu huldigen.