Die Flucht vor dem Offenbarungseid

■ Je früher die Wahl, desto besser für die Regierungen / DDR-Wirtschaft bricht zusammen

Vor einer Woche hat Bundesfinanzminister Waigel die DDR -Regierung noch aufgefordert, sie solle ihr Geld zusammenhalten. Inzwischen spricht sein Staatssekretär Manfred Carstens von möglichen Finanzlöchern im DDR-Haushalt in Höhe von 30 Milliarden Mark. Schon einen Monat nach Einführung der Währungsunion zeichnet sich ab, daß der bevorstehende Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft alle Kalkulationen über den Haufen werfen wird. Von nun an wird mit jeder Woche deutlicher werden, daß der wirtschaftliche Crashkurs der Währungsunion mit einem Totalschaden zu enden droht. Deshalb drücken die Regierungen in Bonn und Ost -Berlin beim Wahltermin aufs Tempo: Jeder Tag früher ist Zeitgewinn auf der Flucht vor dem in den nächsten Monaten fälligen wirtschafts- und sozialpolitischen Offenbarungseid.

Es gebe in der ganzen DDR nicht einen einzigen konkurrenzfähigen Betrieb, erklärte der Präsident der DDR -Treuhandgesellschaft, Reiner Gohlke, am Dienstag. Entsprechend hagelt es in den letzten Tagen Katastrophenmeldungen, und die fehlenden Milliardenbeträge schnellen in die Höhe. Die DDR-Landwirtschaft steht unmittelbar vor dem republikweiten Kollaps. Die Ernte kann nicht verkauft werden, wird zum Teil gar nicht mehr eingebracht. Die riesigen Tierbestände können nicht verwertet werden und verursachen nur noch Kosten. Der Parlamentarische Staatssekretär der SPD im Ostberliner Landwirtschaftsministerium fordert einen Nachtragshaushalt für die Landwirtschaft von 5,3 Milliarden, eine Feuerwehrmaßnahme gegen den kurzfristigen Zusammenbruch ohne langfristige Wirkung. Für eine Strukturanpassung der DDR -Landwirtschaft sind weitere Milliardenbeträge nötig, die noch kein Mensch beziffern kann.

Die Arbeitslosigkeit in der DDR explodiert. Denn der Zustand der DDR-Ökonomie ist weitaus schlimmer, als in den Verhandlungen zur Währungsunion zugrunde gelegt wurde. Wie Gohlke berichtete, sind die meisten DDR-Betriebe schon jetzt nicht mehr zahlungsfähig und fordern bei seiner Anstalt Überbrückungskredite, um überhaupt die Löhne auszahlen zu können. Gohlke kündigte an, es werde ab sofort keine Pauschalkredite mehr geben. Folge: für viele Betriebe steht das Aus unmittelbar bevor. Gohlke prophezeite einen „heißen August“. Schon Mitte Juli hat die Arbeitslosigkeit in der DDR faktisch (formelle Arbeitslose und Kurzarbeiter) bundesdeutsches Niveau erreicht. Jede Woche kommen rund 30.000 bis 40.000 Arbeitslose dazu, das sind alle zwei Wochen fast ein Prozent aller Beschäftigten in der DDR. Alle Schätzungen über die Entwicklung der Arbeitslosigkeit in der DDR, beispielsweise des renommierten Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, haben sich schon jetzt als zu optimistisch erwiesen. Und das DIW hat für das kommende Jahr mit 1,4 Millionen Arbeitslosen und 1,1 Millionen Kurzarbeitern wahrhaftig kein rosiges Szenario gezeichnet.

Entsprechend steigen die Deckungslücken in der Arbeits- und Sozialverwaltung der DDR weit über das vorausberechnete Niveau hinaus. Finanzminister Romberg (SPD) kündigte noch Anfang dieser Woche einen Nachtragshaushalt in Höhe von 12 Milliarden Mark an. Sein Kollege Waigel mahnte zur Sparsamkeit. Inzwischen werden ganz andere Zahlen gehandelt: Die finanzpolitische Sprecherin der Bonner SPD-Fraktion berief sich auf „Schätzungen der Regierungen in Bonn und Ost -Berlin“, als sie eine Deckungslücke von mindestens 22 Milliarden Mark für das zweite Halbjahr 1990 voraussagte. Davon sollten 3,4 Milliarden Mark ungedeckte Ausgaben im DDR -Haushalt sein, bis zu sieben Milliarden Mark für die Arbeitslosenversicherung, jeweils vier Milliarden Mark für die Kranken- und Rentenversicherung und bis zu fünf Milliarden Mark für Mehrausgaben (z.B. Sozialhilfe) der Kommunen.

Runter mit den Rüstungsausgaben, Schluß mit der immer noch sprudelnden Subventionsquelle Schneller Brüter Kalkar - ob diese ohnehin richtigen Vorschläge von Ingrid Mathäus-Meier (SPD) ausreichen werden, um das ökonomische und soziale Desaster in der DDR aufzufangen, steht dahin.

Martin Kempe