Sommernachtszauber am Bunkerhügel

■ Das jüngste Mauerspektakel war kleiner, aber feiner / NO-w-ALL mit fliegenden Drachen und blutenden Bäumen

Berlin. Es war alles schon längst vorbei, als die Zuschauer noch immer auf dem Hügel des Platzes saßen und versuchten, dem Zauber auf die Spur zu kommen. Sie streichelten das schwarz-rosa gefleckte Schwein, rüttelten an dem fünfstöckigen Bretterhochhaus, schauten in den Brunnen, aus dem der Mann mit den Pluderhosen aufgetaucht war, und befühlten den Baum, der bluten und Funken sprühen konnte.

NO-w-ALL, das „Theaterspektakel am grenzenlosen Ort“, hat gezeigt, daß der Potsdamer Platz mehr sein kann als eine Unterlage für einstürzendes Styropor. Die Künstlergruppe Dog Troep aus Amsterdam und das Clown-Mime-Theater Licedei aus Leningrad inszenierte ein Spektakel mit wenig Mauer, dafür um so mehr Märchen und Mystik, mit Lichtspielen, Funkenbildern und Wasserfontänen, selbst die Staubwolken auf dem Platz spielten mit.

„Wenn 1.000 Zuschauer kommen, sollen 1.000 verschiedene Geschichten entstehen“, wünschte sich Han Bakker von Dog Troep. Es kamen 5.000, und Geschichten gab es sicher nicht weniger. Wer sich auf die quälende Suche nach dem „Sinn“ des Ganzen begab, war selbst schuld. „Der einzige Sinn besteht darin, daß es ein großer Unsinn ist, schöne, absurde Dummheiten“, beschrieb es ein Zuschauer. Laufende Karikaturen in schnellen, grellen Bildern, Szenen aus dem Leben, die jeder kennt, auch wenn alles ein bißchen falsch war. Das Brautpaar, das nach dem Hochzeitsmarsch im Schlammregen zurückgelassen wurde, der Kopflose, der die bucklige Trauergesellschaft anführte, der kleine böse Autofahrer, der dem Schwein aus Pappmache die Holzbeine durchsägte, weil dieses den Scheinwerfer seines kleinen bösen Autos getreten hatte.

Man konnte deuten und denken, mußte aber nicht. Wer wollte, brachte das funkensprühende Baggermonster mit ehrgeizigen Bauvorhaben in Verbindung und freute sich über seine Vertreibung; wem das zu anstrengend war, ließ sich durch einen Blick in die rotumrandeten Monsteraugen einen kühlenden Schauer über den Sonnenbrand jagen.

Wer die 30 Akteure auf dem Platz nach ihren Nationen unterscheiden wollte, hatte Schwierigkeiten. „Dabei sind wir ganz verschieden“, urteilte Jan Zandvliet, der künstlerische Direktor von Dog Troep. „Bei Licedei spielen Clowns und Pantomimen, wir spielen mit allem möglichen Material, bauen den ganzen Tag und nutzen dann die Bauwerke und Gefährte, um uns darzustellen.“ Nur eine Woche hatten die beiden Gruppen, die sich schon seit 1983 kennen, für ihre erste Koproduktion geprobt. Auf Initiative der UFA-Fabrik kamen sie in Berlin zusammen, entschieden sich für den Potsdamer Platz als Spielort, „um hier endlich mal was Schönes, Lebendiges zu zeigen“. Die Verständigung der Akteure klappte mit Händen, Füßen und Pantomime, die Holländer gewöhnten sich an den „chaotischen“ Arbeitsstil von Licedei. Kurz vor der ersten Vorstellung war ihnen beispielsweise eingefallen, daß sie noch elf Bund Möhren gebrauchen könnten. Zu spät, und so spielte am Abend nur ein einsamer Salatkopf mit, doch das störte auch niemanden. „Das ist Rußland“, meinte Milan Krejcik, ein Tscheche, der sich das Schauspiel ansah. „Immer tut sich etwas, aber es passiert nichts. Und keiner stört sich daran.“ Auch der Mensch auf der staubigen „Bühne“, der immer wieder anfing, aus einem Haufen Bambusstäben etwas aufzubauen, wirkte in der Unsinnigkeit seines Tuns irgendwie normal.

Zuschauerin Birgit fand es nicht schade, „nichts kapiert zu haben“. „Ich habe die Bilder genossen, das ganze Chaos war viel eindrucksvoller als jede durchgestylte Show. Jedem wäre noch etwas eingefallen zum Mitmachen.“ Auch für Cyril, sieben Jahre und zu Besuch aus Frankreich, gab es keine Verständigungsschwierigkeiten. Er litt ein bißchen, als der Baum mit Motorsägen bearbeitet wurde und aus den abgeschnittenen Ästen Blut strömte. Was das Schönste war, daran hatte er keinen Zweifel: „Le dragoon dans l'aire.“ Ein kleiner Drache mit Lichterketten in den Flügeln, der in den Himmel über Berlin davonschwebte.

Claudia Haas