Utopie unreal

■ betr.: "Die Linke - als historische Erscheinung?", taz vom 24.7.90

betr.: „Die Linke - als historische Erscheinung?“, taz vom 24.7.90

Zunächst wirken sowohl die Rubrizierung unter „Debatte“ als auch das Fragezeichen hinter dem Titel wie blanke Heuchelei. (...)

Mit seinem Satz „Keine Utopie beginnt in der Gegenwart, sondern erst, nachdem diese erfolgreich weggewünscht worden ist“, erreicht der Schwachsinn seinen ersten Höhepunkt. Natürlich beginnt jede Utopie gedanklich mit der Auseinandersetzung mit dem Bestehenden, nämlich was einem an ihm nicht gefällt. Mit dem Bedürfnis nach „realistischer“ Einordnung ins Vorhandene bestimmt nicht! Außerdem ist noch keine widerwärtige Wirklichkeit „erfolgreich weggewünscht“ worden, weil Revolutionäre leider nicht zaubern können. Nicht mal dem Durchblicker Wendt gelingt das mit dem „leider real existiert habenden Sozialismus“.

Kurz gesagt, wirft er jeder Utopie - quer durch die Geschichte vor, nicht „real“ zu sein. Nun haben das Utopien so an sich, der Realität eine bessere Welt gegenüberzustellen - womit nach Wendt das Verbrechen offenbar schon beginnt. Denn das Wirkliche hat für ihn den unschlagbaren Bonus, real zu sein. Egal, was da passiert, man muß sich an die „Realität“ halten. Wendts Diktum, „Innovation als Teil des gegenwärtigen Zustandes zu begreifen“, fordert zu einem gläubigen Verhältnis zum Existierenden auf - was bei der Innovation erneuert wird und zu wessen Nutzen, ist dabei schon gleichgültig. Es fragt sich, warum Herr Wendt nicht ein Verehrer des ML-Dogmatismus ist, denn hier gab es alles, was ihm so sehr gefällt: die „Dialektik von Kontinuität und Erneuerung“, die Verherrlichung des „real Existierenden“ (Materialismus für Opportunisten) und ein schönes philosophisches Konzept, den „historischen Materialismus“ - mit viel Glauben an die „Gesetze der Geschichte“ und den „gesetzmäßigen Sieg der Idee“. Schade, daß er sich darin nicht mehr verwirklichen konnte!

Logisch, daß er der „Linken“ vorwirft, sich nicht auf die lebensfähigere Opposition im Sozialismus (Lebensfähig gut!) gestützt zu haben (was nicht stimmt!), als Berufungsinstanz (denn sowas braucht's ja, Kritik allein genügt nicht!), und damit deren Niederlage (trotz ihrer Lebensfähigkeit) mit verursacht zu haben!

Köstlich, daß nach Wendt „Die Infragestellung bestimmter Dinge wie der parlamentarischen Demokratie aufgehört hat“ (bei ihm und Clique!), und daß das nur ein paar Uneinsichtige noch nicht begriffen haben. Na dann: „Jawoll, Herr Polit-Webel! Demokratie: Hurra! Hurra! Hurra!“

Den Gipfel der Dummheit bilden die Anwürfe gegen die „Marxistische Gruppe“. Kein einziges Gegenargument wird aufgefahren, und so getan, als hätte die Gruppe und ihr „namenloser Referent“ (keine Autorität, der man glauben kann) nichts weiter zu sagen, als daß der „Imperialismus doch nix Schönes“ sei. Kein Wort davon, daß die „Marxistische Gruppe“ eine nüchterne Analyse des „Anschlusses“, des Weltzustandes , des „bürgerlichen Staates“ erarbeitet hat und erarbeitet - und keine Auseinandersetzung damit.

Es reicht, daß hier das Mitmacher-Bedürfnis nach „konstruktiver Kritik“ nicht bedient wird - womit sich die „Marxistische Gruppe“ übrigens schon im realen Sozialismus unbeliebt gemacht hatte. Ideologie (falsches Bewußtsein) ist für Wendt offenbar alles, was sich nicht in die modischen Strukturen des schönen, „realistischen“ Denkens linker Antikommunisten (selbstverständlich haben wir keine Ideologie!“) einordnen will. Die „Marxistische Gruppe“ hat keine Ideologie im depraviertesten Zustand (bessere wären also möglich!), sondern überhaupt keine - und das ist ihr Verbrechen - „Die glauben an nichts!“

Glückwunsch jedenfalls an Herrn Wendt, wie schnell und wendig er sich den aktuellen moral-opportunistischen Forderungen angepaßt hat. Auf diesem Wege weiter zu dem schlauen Neuansatz, der Erfolg bringt! Bloß nicht zu spät kommen, sonst bestraft einen das „Leben“!

Ulrich Hartung, Berlin-Ost