Föderalisten und Europäer, vereinigt euch!

■ Für eine Politik der vorsätzlichen Nationalstaatsunterminierung

DEBATTE

Im Zusammenhang mit dem deutschen Einigungsprozeß ist in diesen Wochen auch von Europa und vom Föderalismus die Rede. Dabei geht es zumeist um Sorgen. Diejenigen, die die deutsch -deutschen Wucherungen als Europäer ins Blickfeld nehmen, fürchten vor allem eine Neuauflage des „deutschen Sonderweges“. Ihnen schwant, daß ein wild gewordener ökonomischer Riese mit exklusiven Beziehungen zu Washington und Moskau im euroäischen Haus schwere Erschütterungen auslösen könnte. Je unsensibler und rüder dieses neue Deutschland aber auf dem europäischen Parkett agiert, so ihre Sorge, desto stärker die Renitenz der anderen Europäer gegenüber einem zügigen Integrationsprozeß. So könnte denn, wenn auch unter veränderten Auspizien, jenes totgesagte „Europa der Vaterländer“ zu späten Ehren kommen, das so ziemlich das exakte Gegenbild zum zivilen und demokratischen Europa darstellt, das fortschrittliche Politik heute anstreben sollte. Es ist kein Zufall, daß die bisher schneidendste Polemik gegen europäische Integration als Kritik an der „Unterwerfung unter deutsche Interessen“ daherkam. Wem an Europa gelegen ist, der sollte Nicolas Ridleys wüste Attacke gegen Bonn und Brüssel nicht als Politrülpser abtun und ungerührt zur Tagesordnung übergehen. Die Euro-Skepsis, die darin deutlich wird, gespeist vor allem aus Sorge um neudeutsche Dominanz, wird von nicht wenigen geteilt.

Den Föderalisten dagegen bereitet vor allem die Aussicht Verdruß, die dem deutsch-deutschen Einigungsprozeß innewohnede Zentralisierungsdynamik könne zu Lasten der Regionen und ihrer Eigenständigkeit gehen. Die Art und Weise, wie Politik in Deutschland derzeit wieder zur „großen Politik“ avanciert, verdrängt Städte, Gemeinden und Länder zunehmend auf die Zuschauerränge. Freilich sind sie an ihrer Statistenrolle nicht ganz schuldlos, vor allem die bundesdeutschen Länder nicht. Ihr Kleinmut bei der Hilfe für die Noch-DDR hat dazu beigetragen, daß die Modalitäten des Zusammenwachsens der beiden deutschen Staaten zur Kohlschen Chefsache werden konnten.

Besieht man die politischen Ziele von „Europäern“ und Föderalisten bei Lichte, dann erstaunt, daß sie noch nicht über Parteigrenzen hinweg - zueinandergefunden haben. Sie sind nämlich, teils ohne es zu wissen, natürliche Verbündete im Kampf gegen zentralstaatliche Anmaßung und nationale Borniertheit. Gemein ist ihnen das Interesse daran, daß die „reifen“ Nationalstaaten sich entäußern: die einen wollen, daß nationale Kompetenzen auf supranationale Institutionen übertragen werden, die anderen, daß regionale Strukturen gegenüber dem Zentralstaat gestärkt werden. Oft wird zwischen diesen beiden Ansinnen ein Widerspruch gesehen, weil der Nationalstaat sich angeblich nur in der einen oder in der anderen Richtung überwinden lasse. Das ist aber nur so lange der Fall, wie gemäß Status quo gedacht wird. Unter derzeitigen Bedingungen ist es in der Tat so, daß eine Europäisierung von Politik, etwa im Rahmen der EG, regionale Konzepte objektiv erschwert. Umgekehrt steht regionaler Partikularismus oft vernünftigen überstaatlichen Regelungen im Weg.

Heute, wo sich Probleme zunehmend globalisieren, gleichzeitig aber die Effizienz dezentraler Lösungen erkannt wird, gilt es, Politikkonzepte zu entwickeln, die beide Stränge vorsätzlicher Nationalstaatsüberwindung zusammenführen. Es geht im Grundsatz um das rechte Maß der Dinge, darum, realen Problemen adäquate politische Strukturen zu geben. Dazu ist es aber erforderlich, daß sich sowohl europäische als auch regionale Politik grundlegend reformiert. EG-Politik, um die geht es zur Zeit vor allem, hat endlich Abstand zu nehmen von ihrer Präferenz für homogene Lösungen und undemokratische Entscheidungsstrukturen, wie sie etwa in der Stärke des nicht gewählten Ministerrats und der Schwäche des gewählten Europaparlaments zum Ausdruck kommt. Nur wenn die EG zur Kenntnis nimmt, daß die europäische Halbinsel „von der Differenz lebt“ (Enzensberger) und diese Vielgestaltigkeit sich auch in der Politik niederschlagen muß, wird sie überhaupt europaverträglich. Die Politik von Ländern, Städten und Gemeinden ihrerseits müßte die miefige Sphäre von Lokalpatriotismus und Gewerbesteuergier verlassen und die Metamorphose vom provinziellen zum weltoffenen Provinzialismus schaffen. Vor allem aber bedarf es institutioneller Reformen, die das Zusammenführen von globalem und regionalem Denken ermöglichen. Warum sollte ein Europa der Regionen keine Kammer haben, in der Länder, Provinzen und Städte Sitz und Stimme haben? Es ginge zunächst auch eine Nummer kleiner: Was spräche etwa dagegen, daß Städte und Gemeinden Repräsentanten in den neuen deutschen Bundesrat entsenden? Nichts.

Bliebe die Frage nach möglichen Trägern einer derart gewirkten Politik. Daß die Konservativen dies sein könnten, ist - spätestens seit Kohls Aufstieg zum „Kanzler aller Deutschen“ - eher unwahrscheinlich. Daran ändern auch aufgeklärte Christdemokraten wie Biedenkopf, Geißler, de Maiziere oder Rommel vorläufig nichts. Und die Sozialdemokraten? Schließlich haben sie eine internationalistische Tradition und stellen schon heute zwei Drittel aller Ministerpräsidenten und zahlreiche BürgermeisterInnen. Sie wären durchaus prädestiniert, eine europäisch-föderalistische Politik glaubhaft zu vertreten. Daß selbst der große alte Mann der Weltpolitik, Willy Brandt, beim Bad im schwarz-rot-goldenen Fahnenmeer deutliche Symptome eines Rückfalls zeigt, stimmt allerdings eher skeptisch. Zudem hat die deutsche Sozialdemokratie ihre starke Position in Ländern und Städten schon allzuoft nur als Sprungbrett ins Zentrum der nationalen Politik mißverstanden. Bleibt abzuwarten, ob die Ministerpräsidenten der Enkelgeneration die Ideen des europäischen Föderalismus ernsthaft weiterentwickeln.

Man kann den im neuen Deutschland hoffentlich vereinten Bürgerbewegungen und Grünen nur wünschen, daß sie sich zu Fürsprechern eines solchen Politikkonzepts machen. „Global denken, lokal handeln“ ist ein altes Motto der bundesdeutschen Grünen. Dessen falsche Übersetzung ins politische Alltagsgeschäft hieß freilich allzulang Regionaltümelei und Euro-Skepsis. Eine zeitgemäße Interpretation dieser ursprünglich vor allem ökologisch gemeinten Devise, die sich aber sehr wohl auch eignet als Leitbild für eine demokratisch verfaßte, zivile und solidarische Gesellschaft, hieße: Ja zu einem „neuen Europa“, das von seinen Homogenisierungsbestrebungen abläßt und Ausgleich mit den Völkern des Südens sucht, Ja zu einem „neuen Föderalismus“, der die Überlegenheit seiner Feinstrukturen zu nutzen weiß und „Demokratie durch Nähe“ ermöglicht, Nein zu rein „nationalen Politikentwürfen“, auch wenn sie stets nur das Gute wollen.

Ein konkreter Vorschlag für den Anfang: Setzen wir uns gemeinsam dafür ein, daß das deutsche Neugewächs weiterhin Bundesrepublik Deutschland heißt - schließlich soll das Ganze zuerst föderalistisch, dann republikanisch und erst dann deutsch sein. Bitte, bitte keine deutsche Bundesrepublik!

Reinhard Loske

Der Autor ist Mitarbeiter am Institut für ökologische Wirtschaftsforschung in Berlin mit dem Schwerpunkt internationale Umweltpolitik.