Der Held im Bauch des Scheusals

■ DDR-Kunst in der Galerie Nikolaus Sonne

Erster August. Berlin schwitzt und stinkt. Wer an so einem Tag dem Rat seines Galeristen folgt und zu einer Vernissage lädt, muß dem Größenwahn erlegen oder als Künstler so kotzerbärmlich sein, daß er sich weder ein Haus in der Toskana noch ein Zelt an der Ostsee leisten kann. Doch wir schreiben das Jahr 1990. Berlin stinkt und schwitzt nicht nur, es vereinigt sich auch wieder. Das heißt: seit Monaten offene Arme für alles, was aus dem Osten kommt. DDR-Künstler hier, DDR-Künstler dort und - das Weinglas in der Hand immer dieselben Fragen: „Aber das muß doch ganz furchtbar gewesen sein, junger Mann, überall die Stasi, und sicher malen sie nur deshalb so schrecklich dunkle Sachen?“ Auf die Dauer ist auch dem dümmsten Vernissagengast soviel Einfühlungsvermögen nicht abzuverlangen und dem schlechtesten DDR-Künstler soviel Heuchelei nicht zuzumuten. Verständlich, daß man, der malenden, installierenden und bildhauernden Revolutionäre überdrüssig, sich nach weniger schicksalsbeladener Kunst sehnt. „Vielleicht mal wieder was Urwüchsiges aus Afrika oder von den Eskimos - bei dem Wetter.“

Wer will es da einem Galeristen verübeln, wenn er, bevor auch der Letzte merkt, daß mit Hammer und Zirkel kein Blummentopf mehr zu gewinnen ist, das Sommerloch Loch sein läßt und hineinstopft, was an DDR-Kunst noch im Keller steht. Und auch die betroffenen Artisten haben längst begriffen, daß es sich nur noch um Tage handeln kann, bis das in Politik und Wirtschaft so erfolgreiche DDR-Anschluß -Motto „Hau weg den Scheiß!“ auch auf dem Kunstmarkt regiert.

In der Galerie Nikolaus Sonne kann man seit einer Woche die Arbeiten von sieben Künstlern aus der DDR bewundern, die erst einmal die Grundvoraussetzung für deutsches Künstlertum erfüllen: Keiner von ihnen war jemals Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Und damit ist auch der letzte Kunstkritiker des deutschen Feuilletons aus der Pflicht genommen, vierzig Jahre Diktatur aus der Ölkruste der Werke destillieren zu müssen.

Ansonsten fällt zumindest ein Mann aus dem Rahmen dieser Sommerausstellung in der Kantstraße: Hermann Glöckner. 1889 in Dresden-Cotta geboren, gehört er zu den wenigen Künstlern, die, ungeachtet aller kulturpolitischen Repressionen, in Deutschland blieben und trotzdem ihr Werk frei von ideologischen Implikationen hielten. Um den Preis öffentlicher Ignoranz verfolgte Glöckner seinen Weg beharrlich, auch als spätestens 1937 in Deutschland und um 1950 in der DDR erneut das künstlerische Experiment seine Heimat verlor. Der Mann war ein Einzelgänger und blieb es bis an sein Lebensende. Als er um 1930 begann, sich mit den geometrischen Grundlagen seiner Malerei zu beschäftigen und auf etwa 150 Tafeln ihre Syntax festschrieb, hatte er noch nie etwas von Malewitschs Schwarzem Quadrat gehört. Den verschiedenen Zirkeln der Moderne stand Glöckner fern, und noch Ende der siebziger Jahre streubte er sich gegen eine kunstgeschichtliche Platzzuweisung: „Ich bin im Grunde kein Konstruktivist, bin vor allen Dingen Maler.“ Neben seinen klaren geometrischen Arbeiten finden sich im Werk des 1987 verstorbenen Künstlers auch immer wieder solche, die zur lyrischen Abstraktion oder zur spartanischen Gegenständlichkeit tendieren. In der Galerie Sonne hingen am Eröffnungstag zwei Blätter, die Glöckner 1957 bzw. 1959 schuf. Eine Lithographie aus den frühen Achtzigern befand sich noch auf dem Postweg aus der DDR nach West-Berlin. Obwohl beide Arbeiten, das Diagonale Liniengitter in Schwarz und der Profilkopf die Breite des Werks nicht einmal andeuten können, ist die Entscheidung zu deren Ankauf und Ausstellung in einer Reihe mit den Arbeiten junger Künstler aus dem Osten Deutschlands ein wohlüberlegter Schritt des Galeristen.

Glöckner steht für ein Künstlerethos, das sich durch seine Distanz zur politischen Macht auszeichnet. Er war nie ein DDR-Künstler, allenfalls ein Künstler in der DDR, wohl aber ein Maler aus Sachsen. Sicher, auch die anderen sechs in der Galerie präsentierten Künstler, Peter Dittmer, Rainer Görß, Hans Scheuerecker, Klaus Hähner-Springmühl, Via Lewandowsky und Carsten Nicolai, gehörten nicht zu denen, für die das Staatsgebilde DDR oder die es tragende Ideologie der Fixpunkt ihres Schaffens war. Dittmer und Nicolai waren nicht einmal Mitglieder des Künstlerverbands der DDR. Doch fielen ihre künstlerischen Anfänge in eine Phase der DDR-Kunstgeschichtsentwicklung, in der das Anything-goes auch schon die DDR-Kulturpolitik ergriffen hatte. Örtliche Kleinfunktionäre bockten zwar noch hier und dort, versuchten Ausstellungen und künstlerische Aktionen mit abgewetzten ideologischen Vorbehalten zu attackieren, doch abgesehen von Scheuerecker (39) und Springmühl (40) dürften die Jüngeren staatliche Repressionen im Kunstbereich nur noch vom Hörensagen kennen. Insofern haben es ihre Arbeiten auch nicht nötig, durch platten Abrechnungssymbolismus irgendwelche staatstragenden Vorläufer zu entschuldigen.

Peter Dittmer ist unter den in der DDR multimedial arbeitenden Künstlern einer der originellsten. Mitte der achtziger Jahre gehörte er zum Dresdener Kreis der sich als „Autoperforationsartisten“ profilierenden HfBK-Studenten Michael Brendel, Rainer Görß, Via Lewandowsky und Else Gabriel. Doch im Gegensatz zu den vom Wiener Aktionismus nicht unbeeinflußten Fleisch-, Blut- und Urinexperimenten der vier diplomierten Bühnenbildner bevorzugte Dittmer eine sublimere Sprache. Die in der Galerie Sonne ausgestellten Arbeiten unterscheiden sich zwar in ihren bescheidenen Abmessungen von seinen aufwendigen und gärtenfüllenden frühen Klanginstallationen, sind aber dadurch nur klarer und perfekter geworden. Dittmers Arbeiten, so etwa ein Klangobjekt, dessen Titel mit der Zeile Das Scheusal ist die Zukunft des Menschen ... beginnt, sind überlegt komponiert, der Zufall ist ausgeschlossen: Auf einem kleinen Rolltisch steht eine Munitionskiste mit der Aufschrift „Handgranaten“. Die wiederum wird gekrönt durch eine braune Pelzmütze, die auf fatale Weise an jene Kopfbedeckung erinnert, die Ceaucescu vom Haupt zu rutschen drohte, als er im Dezember 1989 aus der Luke eines Schützenpanzerwagens seiner Aburteilung entgegenkletterte. Das Didaktische dieser scheinbar vordergründigen Geschichtsillustration wird aber sofort durch ein leises Pfeifen aufgehoben, das mit der Unbekümmertheit eines Badewannengeträllers aus der Mütze des Diktators dringt. Dittmer spielt mit dem Horror, ohne ihn zu beschreiben, und löst das Grauen von seiner ereignisgebundenen Fessel, denn - so der Künstler - “... der Held ist im Bauch des Scheusals“.

Hans Scheuerecker zeigt im selben Raum vier Arbeiten aus der Folge Gesichte. Der in Cottbus lebende Autodidakt versucht in den 1990 entstandenen Werken, graphische Strukturen in die Malerei zu überführen. Geblieben sind bei diesem Versuch vier großformatige Tafeln, auf denen sich rote, schwarze oder goldene Pinselspuren zu dekorativen Bildern formen, ohne jedoch den Sprung in die neue Gattung rechtfertigen zu können. In den Arbeiten fehlt es an Raum, und so drohen sie ins Plakative zu gleiten.

Wie Scheuerecker, der mit Körperbemalung und Installation schon vor einem Jahrzehnt durch die unabhängige Ausstellungsszene tourte, gehört auch der Karl-Marx-Städter Klaus Hähner-Springmühl zu den alten Ostkunstrebellen. Neben Berlin wurde die Stadt, die jetzt wieder Chemnitz heißt, Anfang der siebziger Jahre zu einem Korrektiv für die von der aalglatten Leipziger Schule usurpierte DDR -Kunstlandschaft. Im Künstlerkreis der Galerie Clara Mosch, zu dem neben Springmühl die Graphiker Morgner, Ranft und Schade zählten, übte man sich schon früh in Grenzüberschreitungen. Doch auch der Springmühl-Beitrag in der Galerie Sonne beschränkt sich auf gerahmte Arbeiten: Blätter, auf denen der ehemalige Halbschwergewichtsboxer locker und heftig ins Figurative steigt, ohne aber kunstkritische Klischees zu bedienen.

Nicht so Carsten Nicolai, ein 25jähriger Hauskünstler der Leipziger Galerie Eigen+Art, mit deren Hilfe die Ausstellung in Berlin realisiert wurde. Nicolai wurde von Judy Lybke, der Chefin dieser DDR-Privatgalerie, entdeckt und systematisch aufgebaut. Seine Zeichnungen können ihre Nähe zu den frühen Beuys-Blättern nicht leugnen, kultivieren den Zufall und suggerieren Stilfestigkeit, ohne jedoch alle Zweifel an der vorgeführten Genialität auszuräumen.

Die Ex-Autoperforationsartisten Görß und Lewandowsky teilen sich einen Raum, ohne jedoch die geringste Notiz voneinander zu nehmen. Görß, verwöhnt durch seinen Erfolg auf der 2. Frankfurter Kunstmesse (50.000 DM bot man dort für seine Installation Der Frankfurter Altar), gönnt sich eine Pause und stellt zwei Auskopplungen aus dem Midgard-Zyklus vor, mit dem er 1989 in Dresden sein Diplom erwarb. Ein installiertes Theatrum mundi, dessen Fragmente hier aber dem Betrachter ein schön anzuschauendes Rätsel bleiben. Lewandowsky dagegen schont sich nicht und präsentiert eine Reihe neuerer Arbeiten. Seit etwa zwei Jahren widmet sich der inzwischen in West-Berlin lebende Künstler der „reproduktiven Malerei“. Aus Vorkriegs -Wissenschaftszeichnungen collagiert er merkwürdige Mutationen, die vergrößert auf - jetzt grünlich gefärbten Leinwänden schwarz lagern. Neu ist Lewandowskys Drang, sich mit diesen Werken geschichtskommentierend zu artikulieren, denn bislang genügte ihm allein der surreale Reiz der Formen. Doch damit verläßt er das sichere Feld leicht verdaulicher „Beliebigkeit“ und läuft Gefahr, ernst genommen zu werden. So etwa, wenn er, wie in Jüdische Bürste und deutscher Kamm das Grauen auf zeichenhafte Kürzel reduziert und zugleich mit der Ästhetik des einbezogenen Materials spielt. Paraffin und Stahlspitzen, verbundene Glieder und technische Details - wohlig und schaurig zugleich. Doch anders als Dittmers pfeifende Diktatorenmütze hat Lewandowskys Arbeit kein intellektuelles Korrektiv. Sie bleibt schön und sprachlos wie ein sakrales Objekt einer fremder Religion und nimmt so dem angedeuteten Thema die bedrückende, aber notwendige Schwere.

Die DDR-Ausstellung in der Galerie Sonne spiegelt, trotz vereinzelter künstlerischer Innovationen, Kontinuität. Die hier versammelten Künstler vermeiden bislang tapfer jeden literarischen Verweis auf den in der Selbstauflösung mündenden Systemwechsel im kleineren Teil Deutschlands. Ihnen war und bleibt, wenigstens im Atelier, das Land scheißegal. So laufen sie auch nicht Gefahr, dem Beispiel ihrer russischen Kollegen zu folgen und einem oft nicht nur vom Markt geforderten postsozialistischen Realismus anheimzufallen.

Andre Meier

Bis zum 22. September; Galerie Nicolaus Sonne, Kantstraße 138, Berlin 12