„Die Drohung des Todes“

■ Der Philosoph im Lokalteil / Adornos Kritik an der Straße Senckenberganlage

LESERBRIEF AN DIE 'FAZ‘, 18.7.1962, LOKALTEIL

Beim Überschreiten der Senckenberganlage, nahe der Ecke Dantestraße, ist eine unserer Sekretärinnen, Frau Woch, überfahren und erheblich verletzt worden, nachdem an derselben Stelle wenige Tage vorher ein Passant tödlich verunglückt war. Nachdem ich auf die Mißstände der Verkehrsregelung auf der Senckenberganlage dort, wo sie an der Universität vorbeiführt, verschiedent lich aufmerksam gemacht habe, ohne etwas erreichen zu können, wende ich mich heute an die Öffentlich keit.

Die Senckenberganlage hat sich zu einer der verkehrsreichsten Ausfallstraßen entwickelt. Breit und mit mehreren Bahnen, lädt sie geradezu die Autos dazu ein, loszufahren. Zugleich aber muß diese Straße dauernd von all denen überquert werden, die ebenso an der Universität wie an den auf der anderen Seite der Senckenberganlage befindlichen Institutionen arbeiten. Verkehrslichter fehlen. In unwürdiger Weise muß man über die Straße rennen, um nicht im buchstäblichen Sinn unter die Räder zu kommen; auf der Seite der Mertonstraße ist die Situation besonders gefährlich, weil die Senckenberganlage einen scharfen Knick macht, der die Wirkung hat, die Autos weit nach links zu treiben; es ist für den Überschreitenden fast unmöglich, die Distanzen richtig abzuschätzen. Sollte ein Student oder ein Professor in jenem Zustand sich befinden, der ihm eigentlich angemessen ist, nämlich in Gedanken sein, so steht darauf unmittelbar die Drohung des Todes; der Erklärung bedürfen nicht die Unfälle, sondern einzig, daß nicht viel mehr passiert. Es wäre dringend notwendig, daß zunächst durch Verkehrsampeln in dem ganzen Universitätsgebiet, dann aber durch viel radikalere Maßnahmen Abhilfe geschaffen wird. Die Haltung der Automobilisten selbst, bei denen man den Eindruck hat, daß sie, sofern sie nur das grüne Licht und damit nach ihrer Meinung das Recht auf ihrer Seite haben, die Fußgänger als störende Objekte betrachten, trägt zu deren Gefährdung das Ihre bei; da aber nicht darauf zu hoffen ist, daß sie anderen Sinnes werden, so sind verkehrstechnische und polizeiliche Maßnahmen dringend notwendig. Eine Verzögerung wäre nicht zu verantworten. Aus: Theodor W. Adorno, „Gesammelte Schriften“,

Bd. 20.2., Suhrkamp-Verla