piwik no script img

Von Kontinuität und Bruch

■ Von Asher Reich

In den letzten zehn Jahren war ich zweimal zu Kurzbesuchen in Berlin, wenn ich mich richtig erinnere, müssen es die Jahre 1985 und dann zwei Jahre später, also 1987, gewesen sein. Im Januar 1990 war die Stimmung in der Stadt völlig verändert: wo vorher Blockade-Mentalität spürbar war, herrschte nun eine Art hektischer Euphorie. Diese Stimmung kam mir bekannt wor. Ich erinnerte mich. Da hatte es diesen dramatischn Wandel gegeben in Jerusalem, meiner Heimatstadt, als die Stadt 1967 nach dem Sechs-Tage-Krieg plötzlich ohne Grenze war. Mit der Mauer hat Berlin etwas verloren: diese besondere Kraft, diesen besonderen Chrakter einer Stadt an der letzten Grenze der westlichen Welt, ein spezifisches internationales Aroma.

So hatte ich auch in Jerusalem 1967 den Verlust von etwas gespürt. Das Leben in Berlin hat sich in der immer noch vorherrschenden Euphorie halbiert: was man kennt, ist nur die eine Hälfte des Lebens, die andere liegt - noch unentdeckt, mit all den Versprechen von Glück und Chaos, der Ungewißheit der Zukunft, vor den Toren des Bewußtseins. Die Mauer war ein Kollektivmonument gegen das Vergessen eines ganzen Volkes, heute, ohne dieses Monument, ist der Kampf gegen das Vergessen individualisiert, ebenso wie die Verantwortung für das Resultat der Gedanken, der Erinnerung, der Verarbeitung. Wir müssen hoffen, daß heute nicht nur morgen ist, sondern gestern bleibt. Ohne die Vergangenheit in uns haben wir keine Zukunft.

Erlauben Sie mir einige Sätze über mich selbst: Meine Herkunft bewirkte, daß ich Kindheit und Jugend nur zur Hälfte lebte. Ich bin in einer orthodoxen Familie in Jerusalem geboren und wuchs hinein in eine stumpfe Kindheit, ohne Wiegenlieder aus Mutter- und Vatermund, ohne Kinderbücher, ohne Pflanzen- und Tierreich kennenzulernen, ohne Reisen in die Natur und ohne die Atmosphäre von Jugendbewegung, Sport und Spiel. Dieser natürliche und fruchbare Weg, reich an Erlebnissen, Farben und Schönheit, blieb mir vorenthalten. Andererseits war es mir vergönnt, noch bevor ich drei Jahre alt war, in Worten und Klängen der Gebete und der Thora zu schreiten. In diesem Schreiten verbrachte ich die Wüste meiner Kindheit, und lebte halb in einer verzauberten verbalen Welt.

In mancher Hinsicht sind meine Kindheitserinnerungen die eines an Gedächtnisschwund Erkrankten. Manchmal erscheint mir dieser Zeitraum wie ein Eisberg, dessen größter Teil im eisigen Wasser des Unbewußten versunken war. Und trotzem, der verschlossene Schatz meiner an sich armen Erinnerungen öffnet sich nicht durch bestimmte Ereignisse oder Situationen, sondern durch die Gnade der Worte und Klänge, die ich in meiner Kindheit aus der Thora und den Gebeten in mich aufnahm, in den Tagen des Lernens im Cheder, der religiösen Hebräischschule. Der Wortschatz, den ich von früh her aufnahm, verwandelte sich in nicht faßbare goldene Bilder - Aufleuchten von Erinnerungen aus Kindheit, Jugend und Familie. Bestimmte Worte repräsentieren für mich Teilbilder aus diffuser und ferner Vergangenheit.

Eines Tages, ich war 18 Jahre alt, erwachte ich aus dieser Jugend wie aus einem sonderbaren, anstrengenden, fast schon erloschenen Traum. Und innerhalb eines einzigen Tages überquerte ich die Linien in ein anderes Leben, säkular und frei. Es war natürlich ein scharfer, blendender Übergang, voll Neugierde und Erwartung. Er kam mir vor wie ein Sprung über die Zeit, auf einen anderen Planeten.

Zurückblickend kann ich sagen, daß ich ohne diese Kindheit vermutlich nicht dahin gekommen wäre, Gedichte zu schreiben. Kann sein, daß meine Existenz als einer, der Gedichte schreibt, eine zweite Kindheit ist. Sie holt ihre Kraft aus dem bitteren Vergnügen, im Haus meiner Kindheit aufgewachsen zu sein. Ich schreibe aus dem Vergessen heraus, und manchmal sind es die Worte, die Teile von Ereignissen erfinden. Und wenn Poesie Kritik des Lebens ist, wie Matthew Arnold sagte, so ist sie für mich Kritik meines eigenen Lebens und manchmal meiner Umgebung.

In meinem Bewußtsein von Wort und Sprache ändert sich der Wert des Wortes von einem Moment zum anderen. Es steigt in mir auf aus dem Ewigen Licht, das meine Mutter jeden Abend anzündete zur Erinnerung an ihre in der Shoah umgekommenen Familie. Die kleine Kerze stand im offenen Fenster und ihr schwaches Licht taumelte im Abendwind wie ein Betrunkener. Viele Stunden sammelte ich beim Anschauen des Kerzenlichtes. Und heute noch, wenn ich mein Wort bedenke, kann ich seinen Ursprung sehen: das Bild des Kerzenlichts, das in Wind und Dämmerung flackert mit wechselnden Formen und nicht erlischt. Übersetzung: Efrat Gal-Ed und

Christoph Mecke

Der israelische Schriftsteller Asher Reich wurde im ultraorthodox-jüdischen Viertel von Jerusalem geboren, und widmete sich im Rahmen der traditionellen Erziehung dem intensiven Studium des Talmud. Nach religiöser Grundschule und Gymnasium studierte er Literatur und Philosophie an der Jerusalemer Universität. Reich hat seit 1963 acht Gedichtbände publiziert und ist Mitherausgeber der Zeitschrift des israelischen Schriftstellerverbandes. Sein literarisches Werk wurde u.a. anderem mit dem Anne-Frank -Poesie-Preis, dem Chomsky-Preis und dem Preis des Premierministers für Poesie ausgezeichnet.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen