ARMER VINCENT

■ Zwei Mitleids sind zuviel

VON ULF ERDMANN ZIEGLER

Armer Vincent! Niemand wollte seine Bilder sehen. So ist er dann verrückt geworden, während er die Bilder malte, die unsere Herzen so sehr erobert haben, daß sie nun - die Bilder - von den Konzernen zurückerobert werden. Glücklos war er, genial und verschmäht, nichts, rein gar nichts hat er genießen dürfen von dem Ruhm, den ihm das 20. Jahrhundert nachgeworfen hat. Und am Ende hat er sich, unser Vincent, dann ganz erbärmlich erschossen.

Doppeltes Mitleid hält besser, nicht wahr? Erstens ist er früh gestorben - am Vergleichsdatum war er nur wenig älter als Mozart und deutlich jünger als Kafka - und zweitens hat er von seinem Ruhm nichts gesehen.

Man kann die Geschichte aber auch anders erzählen. Vincent van Gogh entschloß sich erst Künstler zu werden, als sein um vier Jahre jüngerer Bruder, im Kunsthandel erfolgreich, ihn miternähren konnte. Da war van Gogh, der damals keineswegs Bilder malte, die uns heute erschüttern würden, schon Ende Zwanzig. Er war zwar im wesentlichen Autodidakt, hatte aber beste Hintergründe: Einblick in die handelbare Kunst der Zeit, einen akademischen Maler als Onkel, Kontakt zu den führenden Malerrebellen in Paris. Über Theo, den Bruder, der ihn dort zwei Jahre lang beherbergte, vermittelte, beriet.

Die Geschichte ist bekannt, erst in Südfrankreich lief Vincent van Gogh zu ganz großer Form auf. Da war er Mitte dreißig: durchaus kein Fall später künstlerischer Reife. Aber auch nicht das Gegenteil.

1853 ist van Gogh geboren, Freud 1856. Freud starb 1939. Hätte sich van Gogh das Leben nicht genommen (1890), er hätte die Ernte einfahren können wie Pablo Picasso oder Mick Jagger: Ehrungen und Staatspreise, Geld und Frauen. Seine Ölbilder erzielten beim Erstankauf durch Wiederverkäufer schon Anfang der neunziger Jahre Preise von hundert Francs. Das war immerhin die Hälfte der Pension, die Bruder Theo ihm monatlich zahlte. Und Vincents Bilder waren in rund zwei Tagen gemalt, wenn es nicht im Kopf gerade rund ging.

Zur Jahrhundertwende war klar, daß van Gogh jene Lücke füllen würde, die der verödete Impressionismus hinterlassen hatte. Ab 1905 wurde van Gogh, von Paul Cassirer den progressiven Industriellen behutsam nahegebracht, ein gut verkäuflicher Maler in Deutschland. Die Museen versuchten gegen Ende des ersten Jahrzehnts, sich eins der paarhundert guten Bilder zu sichern. 1913 wurden die ersten Bilder nach Amerika geschifft, zur nun legendären Armory Show. Da wäre van Gogh sechzig gewesen, jünger als jetzt Miles Davis.

Natürlich kann man einwenden, daß sein Tod - in Kombination mit dem Vermarktungsgeschick der beide Brüder überlebenden Schwägerin Johanna van Gogh-Bonger - den Markt erst richtig angeheizt hat. Das gilt aber nur für Spitzenpreise bestimmter Werke nach mehrfachem Wiederverkauf. Denn daß van Gogh mit seinem Renommee aus der aktuellen Produktion gute Preise hätte erzielen können, beweisen die Beispiele von Munch, Matisse und Picasso.

Mit dem doppelten Mitleid ist es auf den zweiten Blick schlecht bestellt. Allein das Mitleid für den ungelebten Ruhm ist schon problematisch. Van Gogh hatte schon in Paris, also vor dem großen Schub, erheblichen Zuspruch. Er tauschte Bilder mit anderen, teils etablierten Malern, und überließ sie dem Bruder: Er mußte also nur bedingt ein schlechtes Gewissen haben. Die Gesetze des Kunstmarktes kannten die Brüder van Gogh schließlich beide.

Und die Zeitgenossen, waren sie denn für das Werk des Malers gänzlich blind? Wohl kaum. Sie brauchten einfach Zeit, die komplexen Innovationen Vincent van Goghs zu begreifen. Außerdem war es schwer, von Paris aus ein Werk zu beurteilen, das im Midi als Tauschgabe für getrunkene Schnäpse in dunklen Kammern lagerte, ungeliebt, versteht sich. Versuchen Sie doch mal, in einem Provinznest offene Rechnungen mit einem Basquiat zu begleichen.

Für die Verwirrung, die Paranoia, den dilettantischen Selbstmord kann man van Gogh natürlich bemitleiden. Aber nicht gleichzeitig für den ungelebten Ruhm. Bis zur Rente muß schon durchhalten, wer seine Zeitgenossen bekehren will. ZWEI MITLEIDS SIND ZUVIEL