Abseits im Abseits

■ Über den Schwachsinn der „gleichen Höhe“

PRESS-SCHLAG

Ach, was wurde sie bejubelt, die neue Abseitsregel. Gleiche Höhe sei nunmmehr erlaubt, kein Abseits mehr! Ein Gewinn für den Fußball, hieß es, endlich eine mutige Entscheidung der FIFA, man versprach sich offensiveren Fußball, gar ein Ende der als so destruktiv verpönten Abseitsfalle. Alles Humbug. Sowohl in Theorie wie in Praxis.

Die Ernsthaftigkeit, mit der die neue Regel diskutiert wurde, war erschreckend absurd. „Gleiche Höhe“ war immer schon ein erbärmlicher Kunstbegriff, eine theoretische Unmöglichkeit, entstanden aus dem unklärbaren Streit, ob der Herr Stürmer denn nun eine Winzigkeit weiter vorne oder dahinter gestanden habe: „Aber höchstens gleiche Höhe.“ Wo wird die Höhe überhaupt gemessen? In der Tiefe des Bauches? Zählt die Stirn, die Brust, die Wadenwölbung? Oder ist die Schuhspitze auf gleicher Höhe? Selbst wenn es einen definierten Körperteil gäbe, immer, in jeder Situation, wird es den kleinen Unterschied der „ungleichen Höhe“ geben, der sich freilich dem trägen menschlichen Auge entzieht. Die exakt gleiche Höhe ist zwar mit fahrlässig geringer Abstraktionsbereitschaft denkbar, aber real ein Unding.

Nun wird etwas, das es praktisch nicht gibt, für erlaubt oder verboten erklärt. Das ist pure Augenwischerei; so, als erlaube man offiziell das Handspiel mit dem Fuß. Die neue Regel ist die alte.

Aber selbst, wenn es die gleiche Höhe gäbe, als einen ganz bestimmten definierbaren Moment von Ort und Zeit, die Änderungen in der Praxis wären gleich Null. Denn die gegenwärtig eingesetzten Mittel zur Überprüfung sind absolut unbrauchbar. Ihr Name ist Linienrichter, und das sind bekanntlich die Gestalten, über deren wichtigtuerisches Fahnenwedeln sich jeder Fußballfreund seit jeher nur wundern kann. Nur selten reagieren sie tatsächlich in dem von der Regel geforderten Moment der Ballabgabe, sondern fast immer plus persönlicher Reaktionszeit, die manchmal in vollen Sekunden zu bemessen ist. Die „Gleichortigkeit“ wird also zusätzlich noch mit Ungleichzeitigkeit gemessen. Ein Prinzipfehler im System, daher ein denkbar unbrauchbares Instrument.

Noch in bester Erinnerung die vielen Fehlentscheidungen der Fähnriche bei der WM, aber auch in der neuen Bundesligasaison geht es - gleiche Höhe her oder hin nahtlos weiter. Andersen trifft regulär für Düsseldorf, der schwarze Seitenmann schläft: Kein Tor. Für Wattenscheid trifft Tschiskale regel-, aber nicht linienrichtergerecht: Auch kein Tor. Geändert hat sich nichts. Schuld tragen nur scheinbar die Linienrichter. Das eigentliche Problem sitzt tiefer. Das Sturmspiel ist mit der Zeit viel ausgebuffter und vor allem viel schneller geworden. Dem kann kein Linienrichter mehr folgen, also ständig auf gleicher Höhe sein. Statt dessen dürfen sie mit ihren Fehlern Karrieren von Spielern behindern, schuldlosen Vereinen Millionenkosten aufbürden und die Fans zur Weißglut treiben (mit den manchmal bekannt-schlimmen Folgen).

Fernsehaufnahmen als korrigierende oberste Instanz sind während des Spiels weder sinnvoll (Pausen bei Sitzungen des Zeitlupengerichts?) noch praktikabel (Kameras in alle Kreisliga-Kampfbahnen?). Bleibt nur, die Regel dem moderneren Spiel anzugleichen. Abseits, ein im Prinzip sehr sinnvolles taktisches Regularium, könnte in bestimmten Bereichen des Spielfeldes aufgehoben werden. Oder es könnte neue Abseitslinien geben, etwa in der Mitte einer jeden Spielhälfte, und grundsätzlich mit einem eigenen Abseitsrichter. Dieser wäre immer auf gleicher Höhe. Und auf der Höhe der Zeit.

Aber eine solche Regeländerung wenigstens lokal versuchsweise einzuführen (und die Erfahrungen der Aktiven nachher auszuwerten), wird sich keiner der greisen Fußballfunktionäre je erdreisten. Warum auch, wenn sie schon als mutige Modernisierer und Wegbereiter neuen Offensivgeists gefeiert werden, nur weil sie eine alte gegen die wirkungslos gleiche neue Regel ersetzt haben.

Bernd Müllender.