„Bagatellen“ - Traumtanzen und die Schuld gegenüber Fröschen

Lebens-Geschichten von Ernestine Zielke, Bremer Schauspielerin / Bisher unveröffentlichte Auszüge / taz-Sommer-Serie, Folge 5  ■  hierhin bitte die

Alte auffem Sarg

Ernestine Zielke, Jahrgang '23, streitbare Schauspielerin, schreibt seit einiger Zeit an ihren Erinnerungen. Es ist ein Abenteuer, sagt sie, sich in diesem Alter nochmal auf sein ICH einzulassen. Jede Geschichte kann für sich alleine stehen.

Bevor ich das Wort SCHULDIG gelernt hatte, war ich schon schuldig. Meine Mutter wäre beinahe an mir gestorben. Nicht an meinem Geburtstag, sondern als sie nach drei Lebend- und einer Totgeburt das UNVERMEIDLICHE nicht mehr anerkannte und auf die Würde pfiff. Sie wollte nicht mehr. Das konnte mein Vater nun doch nicht zulassen. Das nicht! Später wurde erzählt, meine Schwester Paula habe das Schreien meiner Mutter gehört, sei in das elterliche Schlafzimmer gedrungen, das sonst niemals ein Kind betreten durfte und habe auf meinen Vater eingeschlagen. Sie war 5 Jahre alt.

Einmal lief ich mit meiner Freundin über eine Landstraße. Wir waren von zu Hause ausgerissen. Es regnete. Plötzlich merkten wir, daß wir umgeben waren von Tausenden von Fröschen. Sie bildeten einen so dicken Teppich, daß wir die einzelnen kaum unterscheiden konnten. - Wie lange gingen wir über sie hinweg? Wir standen wie erstarrt und weinten. Wir hielten die Luft an und hoben die Schultern, um uns leicht zu machen für die Frösche unter unseren Füßen. Wir waren eingeschlossen. Ein Bauer kam mit einem Leiterwagen. Er hielt an und setzte uns auf die Fuhre. Wir hielten die Augen fest geschlossen, um die Räderspur nicht zu sehen. Ich sah sie trotzdem und ich weine immer noch, wenn ich daran denke.

Ich hatte einen Traum. Ich war im Zirkus. - Kannst du auch was? - wurde ich gefragt. Alle starrten mich an - Ich kann tanzen - Alle lachten. Ich bin ein dickes, plumpes Kind. Ich ging in die Manege. Der Clown machte eine tiefe Verbeugung vor mir. Alle lachten. Der Clown fiel hin. Alle lachten. Ich hob die Arme und tanzte. Ich tanzte um den Clown herum. Der Clown weinte, in echt. - Warum weinst du? - fragte ich. Weil du so schön bist und tanzt wie eine Elfe - Alle lachten, aber der Clown lachte nicht.

Ich tanzte. Ich konnte alles: Spitzentanz, hohe weite Sprünge, Spagat und dann die Pirouette. Mit der Pirouette schraubte ich mich in die Höhe. - Was macht sie da? - fragte mein Vater meine Mutter. - Sie tanzt - sagte meine Mutter. Komm sofort runter - schrie mein Vater. Alle lachten. - Laß sie doch - sagte meine Mutter zu meinem Vater, und zu mir Um sieben mußt du zu Hause sein. Wenn die Laternen angezündet werden. - Meine Mutter winkte zu mir nach oben. Ich kann nicht - schrie ich. Die Pirouette schraubte mich immer höher. Meine Mutter nickte mir noch einmal zu. - Du schaffst das - dann ging sie weg. - Ich kann nicht. Niemand verstand mich. Alle lachten.

Der Traum wiederholt sich. Aber wenn ich schreie, weiß ich nun: Es ist nur ein Traum. Inzwischen kann ich Träume machen, das heißt, wenn der Traum ganz schrecklich ist, kann ich machen, daß niemand lacht. Die Pirouette dreht mich durch die Spitze des Zeltes. Das ist wie Auftauchen nach einem Sprung ins Wasser. Da ich nicht auf die Erde zurück kann, setze ich mich auf eine Wolke. Ich weiß im Traum, daß ich alles kann im Traum. Bevor die Laternen angezündet werden, komme ich nicht runter. Das fällt mir im Traum nicht ein!