Ein Aids-Manifest des Mittelmaßes

■ Über den gescheiterten Versuch der Aids-Enquete-Kommission, die Perspektiven bundesdeutscher Aids-Politik zu bestimmen

Von Peter Lindlahr

Als in Bonn die Mitglieder der Aids-Enquete-Kommission des Bundestages Ende Juni ihren längst überfälligen Endbericht vorlegten, schien bei den Beteiligten für einen trügerischen Moment jene Übereinstimmung zu herrschen, die der Kommissionsvorsitzende Hans-Peter Voigt (CDU) mit dem „Bewußtsein der Dringlichkeit“ und der „Bedeutung der Aufgabenstellung“ zu erklären versuchte.

Die Kommissionsmitglieder, so ließ Voigt wissen, hätten vielfach entgegen der persönlichen Auffassung des einzelnen den Kapiteln des Berichts zugestimmt, „um dem Gesamtergebnis das notwendige Gewicht zu verleihen“.

Noch deutlicher läßt sich wohl kaum zum Ausdruck bringen, wie wenig dieser taktisch motivierte Konsens inhaltlich wert ist. Denn hinter den über 900 Seiten Bestandsaufnahmen, Auswertungen und Empfehlungen verbirgt sich eine lange Geschichte von Eitelkeiten, Demagogie und nicht selten persönlichen Diffamierungen, die den mit ParlamentarierInnen und Sachverständigen besetzten Ausschuß immer wieder an den Rand des Scheiterns brachten. Schon bei der Erarbeitung des Zwischenberichts vor zwei Jahren waren die Fronten derart verhärtet, daß die bestehenden Gegensätze unüberwindbar schienen. Zu tief waren die ideologischen Gräben zwischen den Vertretern der allseits bekannten bayerischen Linie und denen aus dem Rest der Republik. Obwohl in der Folgezeit die gesamtgesellschaftliche Polarisierung zwischen bayerischen Scharfmachern und dem vorgeblich liberalen Bonner Regierungskurs durch das unerwartete Abtreten der Protagonisten Gauweiler und Süssmuth abgeschwächt wurde, dominierten innerhalb der Kommission weiterhin die eingefahrenen Argumentations- und Denkmuster.

Bis zuletzt ging es deshalb offenbar weniger um die offizielle Themenstellung „Gefahren von Aids und wirksame Wege zu ihrer Eindämmung“, als vielmehr, wie es die Grünen -Abgeordnete Marie-Luise Schmidt formulierte, um die „Gefährlichkeit der CSU und wirksame Wege ihrer Eindämmung“.

Gegen die CSU-Stimmen gelang es dann auch, im Endbericht in einigen zentralen Bereichen, wie etwa der Diskussion um Meldepflicht und seuchenrechtliche Maßnahmen, klare Stellungnahmen gegen Repression und bayerische Ordnungsvorstellungen durchzusetzten. Diese Klarheit bleibt aber der Bericht in vielen anderen Punkten schuldig. Hinter dem vordergründigen Konsens, daß allein Aufklärung die entscheidende Strategie der Aids-Prävention darstelle, dokumentiert er eine ganze Palette unversöhnlicher Gegensätze, die als Empfehlungen vielfach völlig unvermittelt nebeneinander stehen.

Angefangen bei dem grundlegenden Streit über den präventiven Wert des HIV-Antikörpertestes, die medizinische Intervention bei symptomlosen HIV-Infizierten und finanziellen Rahmenbedingungen der Pflege von Aids-Kranken bis hin zu straf-, seuchen- und ausländerrechtlichen Bewertungen zeigt der Enquete-Bericht in seiner ganzen Widersprüchlichkeit ein geradezu repräsentatives Bild der bundesdeutschen Aids-Diskussion.

Und da schließlich bei dem Gerangel um Mehrheitsempfehlungen und Minderheitenvoten kein klarer Punktsieger auszumachen ist, werden die Ergebnisse kurioserweise von den verschiedensten politischen Lagern als Bestätigung der eigenen Argumentation beansprucht.

So dürfte nicht nur Rita Süssmuth, der als Bundestagspräsidentin der Kommissionsbericht förmlich überreicht wurde, tiefe Genugtuung darüber empfunden haben, doch noch die Früchte ernten zu können, die sie als streitbare Ministerin gesät hatte. Die Bundesregierung, so versicherte die amtierende Ministerin Ursula Lehr, werte den Bericht - wie könnte es anders sein - als Bestätigung ihrer bisherigen Politik.

Völlig überraschend hingegen, daß neben all den überwiegend vom politischen Kalkül bestimmten amtlichen Stellungnahmen sogar bei den Vertretern der von HIV und AIDS am stärksten betroffenen Gruppen bei ersten Reaktionen weithin die Devise galt, nur die aus Ihrer Sicht positiven Ansätze der Enquete -Empfehlungen hervorzuheben. Weder die Deutsche Aids-Hilfe noch der Bundesverband Homosexualität sahen sich jedenfalls bislang veranlaßt, mit der fälligen inhaltlichen Kritik an die Öffentlichkeit zu gehen.

Nur bei den beteiligten Akteuren selbst ging nach der Veröffentlichung der Empfehlungen das interne Gezänk unvermindert weiter. Die Kommission sei ihrer eigentlichen Aufgabe nicht gerecht geworden und habe sich nicht auf die wesentlichen Punkte konzentriert, tönte der FDP -Hinterbänkler Norbert Eimer bei dem hilflosen Versuch, die eigene Statistenrolle zum Abschluß doch noch aufzuwerten. „Eimerchen“, wie er im Kreise der KommissionskollegInnen liebevoll genannt wird, stand mit seiner Manöverkritik nicht allein. Auch aus dem sogenannten progressiven Lager um die Sachverständigen Becker Bruns und Rosenbrock war herbe Kritik an den halbherzigen und unzureichenden Arbeitsergebnissen zu vernehmen, die die Frankfurter Sexualwissenschaftlerin Sophinette Becker auf den kurzen Nenner bringt, daß „dieser Bericht nicht dort Alarm schlägt, wo er es unbedingt müßte“.

Das Bemühen um sachlich fundierte Auseinandersetzung war trotz des zahlreich versammelten Expertentums in den Sitzungen und Anhörungen längst auf der Strecke geblieben. So stellt Bundesanwalt Manfred Bruns ernüchtert fest, daß sich die Diskussionen oftmals auf dem „Niveau von bayerischen Biertischrunden“ bewegten.

Welches Diskussionsniveau Bruns damit meinte, bestätigt der CSU-Abgeordnete Norbert Geis auf seine Weise. Man habe zwar brauchbare Ergebnisse erzielt, urteilte Geis rückblickend, aber manches sei einfach nicht durchzusetzen gewesen, weil es in der Kommission Leute gebe, „die den homosexuellen Bereich nicht stören wollten“.

Solche Polemik mag nur ein Grund dafür sein, warum die Aussagen der Enquete-Kommission so wenig geeignet sind, der öffentlichen Aids-Diskussion neue Impulses zu verleihen und einer breiteren Öffentlichkeit die Vielschichtigkeit der medizinischen, ethischen, rechtlichen und sozialen Probleme um HIV nahezubringen. Über eine weitgehend deskriptive Bestandsaufnahme kommt die Kommissionsmehrheit immer dann nicht hinaus, wenn bestimmte Positionen wie etwa die strafrechtliche Sanktionierung von „unsafe sex“ durch die BGH-Rechtsprechung bereits festgeschrieben sind.

Aber auch dort, wo über die bloße Beschreibung des Ist -Zustands hinausgehend noch Entscheidungs- und Diskussionsprozesse mitgestaltet werden könnten, läßt dieser Endbericht klare programmatische Aussagen vermissen. Dies gilt sowohl auf rechtspolitischem Gebiet für das umstrittene Kapitel Ausländerrecht, wie auch im forschungspolitischen Bereich für die vieldiskutierten epidemiologischen Ansätze.

Alternative Forschungsansätze bleiben im Enquete-Bericht völlig außer acht. Auch präventionspolitische Forderungen, etwa zur Methadonvergabe oder zur Streichung des § 175, stellen aufgrund der überaus vagen Formulierungen - die Bundesregierung solle „die strafrechtliche Lage bezüglich § 175 (...) überprüfen“ - keinen erkennbaren Fortschritt für die laufende Diskussion dar. Und so darf es dann auch niemanden wundern, wenn den Empfehlungen der Aids-Enquete -Kommission dasselbe Schicksal widerfahren wird, wie denen der KollegInnen aus der Gentech-Enquete.

Falls es nämlich eines Tages gewissen Leuten doch noch opportun erscheint, im Hau-Ruck-Verfahren ein Aids -Spezialgesetz zu basteln, wird womöglich manch eine(r) noch bereuen, daß die eigenen Aussagen eben doch nicht eindeutiger ausgefallen sind.