Für eine unabhängige revolutionäre Kunst

■ Ein Manifest von Andre Breton und Leo Trotzki

Man kann ohne übertreibung behaupten, daß die menschliche zivilisation nie zuvor von so vielen gefahren bedroht worden ist wie heute. Die Vandalen zerstörten mit hilfe ihrer barbarischen, das heißt höchst unsicheren mittel die antike kultur in einem begrenzten teil Europas. Jetzt ist es die kultur der ganzen welt in der geschlossenheit ihres historischen schicksals, die unter der bedrohung reaktionärer, mit der ganzen modernen technik bewaffneter kräfte ins wanken gerät. Wir haben dabei nicht nur den sich nahenden krieg im auge. Schon jetzt, zu friedenszeiten, ist die situation der wissenschaft und der kunst absolut unerträglich geworden. (...)

Es muß nicht erst gesagt werden, daß wir uns zu keinem zeitpunkt - wie günstig er auch sein mag - mit der parole: „weder faschismus noch kommunismus!“ solidarisch erklären, die der natur des konservativen und erschreckten philisters entspricht und sich an die überreste einer „demokratischen“ vergangenheit klammert. Wahre kunst, das heißt kunst, die sich nicht mit variationen über bereits gegebene modelle zufrieden gibt, sondern danach strebt, den inneren bedürfnissen des menschen und der heute lebenden menschheit ausdruck zu verleihen, kann nicht anders als revolutionär sein, das heißt, sie kann nur eine vollständige und radikale neuordnung der gesellschaft anstreben, und sei dies nur, um das intellektuelle schaffen aus den ketten zu befreien, die es niederhalten, und um so der ganzen menschheit möglich zu machen, sich in höhen zu erheben, die in der vergangenheit nur einsame genies erreicht haben. Gleichzeitig bekennen wir, daß allein die soziale revolution den weg zu einer neuen kultur bahnen kann. Wenn wir indessen alle solidarität mit der gegenwärtig in der UdSSR regierenden kaste zurückweisen, so nur deshalb, weil sie in unseren augen nicht den kommunismus repräsentiert, sondern vielmehr sein perfidester und gefährlichster feind ist.

Unter dem einfluß des totalitären regimes der UdSSR und durch die vermittlung der sogenannten „kulturellen“ organe, die sie in anderen Ländern kontrolliert, hat sich ein tiefer dämmer über die ganze welt gelegt, das der hervorbringung jeder art von geistigen werten feind ist. Ein dämmer aus schmutz und blut, in dem, als intellektuelle und künstler verkleidet, jene männer die hand im spiele haben, die sich aus der servilität einen machtbereich, aus käuflicher verleumdung eine gewohnheit und aus der verherrlichung des verbrechens ein vergnügen gemacht haben. Die offizielle kunst der stalinistischen epoche spiegelt mit einer grausamkeit, die in der geschichte ohne beispiel ist, ihre höhnischen bemühungen wider, hinters licht zu führen und ihre wahre söldnerrolle zu maskieren. (...)

Die kommunistische revolution fürchtet die kunst nicht. Sie weiß, daß nach abschluß der forschungen, die man über die entwicklung der künstlerischen berufung in der sich auflösenden kapitalistischen gesellschaft anstellen kann, die determination dieser berufung nur als das resultat eines zusammenpralls zwischen dem menschen und einer gewissen anzahl sozialer formen angesehen werden kann, die ihm feindlich sind. Dieser umstand allein macht, mit ausnahme des bewußtseinsgrades, der noch zu erwerben ist, den künstler zum empfänglichen verbündeten. (...)

Was wir wollen:

die unabhängigkeit der kunst - für die revolution

die revolution - für die endgültige befreiung der kunst.

Andre Breton, Diego Rivera (1)

Mexico, am 25.Juli 1938

(1) Obwohl unter diesen beiden namen publiziert, ist dieses manifest in wahrheit von Leo Trotzki und Andre Breton formuliert worden. Aus taktischen Gründen bat Trotzki, daß seine unterschrift gegen die von Diego Rivera, seinem gastgeber im exil, ausgetauscht werde.