Jeden Tag ein bißchen sterben

■ Krebsforscher und Mediziner warnen massiv vor den Krebsrisiken durch Rauchen und falsche Ernährung/ Grünes und gelbes Gemüse soll das Krebsrisiko eindämmen / Alternative Therapieformen als schmerzlindernde Methoden vorgestellt

Von B.Petersen und G.Haas

Rote Beete, Misteln, Thymian und vor allem Kräutertees sollen nun als schmerzlindernde Waffe gegen jene Krankheit ins Feld geführt werden, an der jeder vierte Mensch gegenwärtig stirbt. Die Rede ist vom Krebs, mit dem sich fast 10.000 Wissenschaftler knapp eine Woche lang in Hamburg rumschlugen. Auf diesem Mammutkongreß wollten sich Krebsforscher und Mediziner auf den neuesten Stand der Krebsbekämpfung und Krebsforschung bringen. Die über 2.000 Vorträge (in dreißig Parallelveranstaltungen) und 3.000 Poster-Präsentationen verwirrten nicht nur Experten, sondern machten es auch dem interessierten Laien fast unmöglich, Neues herauszufischen.

Vor Quacksalbern

wird gewarnt

Neu war in jedem Fall, daß der alternativen Krebstherapie mehr Gehör verschafft wurde. Samuel Broder, Direktor der größten amerikanischen Krebsgesellschaft, verlangte „mehr Respekt vor Wirkstoffen aus der Natur, selbst wenn Super -Computer Baupläne für neue Medikamente entwerfen können“. Er führte den Wirkstoff Taxol an. Dieses Medikament wird aus der Rinde von Eiben extrahiert und habe, so Broder, „erfolgversprechende Wirkungen bei bestimmten Krebsarten“. Zwar nehmen die „wissenschaftlich unbewiesenen Therapieformen“, so die Sprachregelung auf dem Hamburger Kongreß, immer mehr zu - allein in Westeuropa werden jährlich rund 1,7 Millionen Dollar ausgegeben -, aber bei keiner dieser Methoden sei eine Wirkung erwiesen, schränkte der Schweizer Krebsmediziner Walter Felix Jungi ein. Der alternativen Krebstherapie räumte er vor allem bei jenen Patienten eine Chance ein, die bereits operiert, bestrahlt oder mit einer Chemotherapie behandelt wurden und die sich mit zusätzlichen Möglichkeiten gegen ihre Erkrankung zu wehren versuchen. Sie sollte also vor allem als eine schmerzlindernde Methode verstanden werden. Wolf Wimmer vom Landgericht Mannheim warnte in diesem Zusammenhang vor den Praktiken von Quacksalbern, die gerade in der Bundesrepublik verstärkt ihr Unwesen trieben.

Keine Entwarnung für trinkende Nichtraucher

Ansonsten wurde auf dem Kongreß allseits Bekanntes in großem Umfang breitgetreten: das Rauchen als Krebsrisiko Nummer 1 und eine fettreiche Ernährung als weiterer gewaltiger Risikofaktor. Und wer es bisher noch nicht wußte, Alkohol, Tabak und fleischreiche Nahrung sind die größten Risikofaktoren für den Speiseröhrenkrebs. Kommen alle drei Faktoren zusammen, sagte der französische Krebsspezialist Tuyns, sei das Krebsrisiko „unvorstellbar hoch“. Ein Rückgang dieser Krankheit habe sich in den Jahren nach dem Krieg gezeigt, weil Alkohol und Tabak knapp waren. Aber das ist natürlich keine Entwarnung für trinkende Nichtraucher: Alkohol allein fördert den Speiseröhrenkrebs auch unabhängig vom Rauchen. Ein Drittel aller Krebstoten wurde als Opfer der Nikotinsucht bezeichnet. Weltweit stehe der Lungenkrebs auf der Liste der tödlichen Krebsarten an erster Stelle. Bei den Frauen wird er den noch an der Spitze rangierenden Brustkrebs in den nächsten Jahren überholen. Wer im Beisein von Kindern raucht, begeht nach den Worten des Generalsekretärs der Deutschen Krebsgesellschaft Kindesmißhandlung. Aber noch können die Folgen des Passivrauchens bei Kindern nicht eindeutig nachgewiesen werden.

Vertreter der Internationalen Vereinigung gegen den Krebs (UICC) aus der DDR, Polen, Ungarn und der UdSSR beklagten die aggressiven Kampagnen der westlichen Zigarettenindustrie in ihren Ländern.

American Blend

und Perestroika

Vor der Perestroika waren in der Sowjetunion amerikanische Zigaretten nur für harte Devisen auf dem Schwarzmarkt zu haben. Der sowjetische Krebsforscher Nikolai Napalkow kam deshalb zu der These: „Wer amerikanische Zigaretten rauchen will, muß nur das politische System ändern.“

Und weiter: Trotz Rationierung und Schwarzmarkt rauchten allein die Moskauer zwischen Januar und Juni 20 Prozent mehr als früher. Vor wenigen Tagen wüteten die Leningrader gegen die schlechte Versorgung mit Glimmstengeln. Nach Angaben Napalkows paffen über 50 Prozent der sowjetischen Männer. Schuld an diesem Dilemma habe ganz allein Peter der Große, vermutet der sowjetische Krebsforscher. Dieser führte den Tabak aus dem Westen ein, und zwar gegen den Widerstand seiner Untertanen. Jene, die nicht rauchen wollten, warf er sogar ins Gefängnis.

Auch in den Entwicklungsländern stieg der Zigarettenkonsum an. Bisher lebten etwa 50 Prozent der Raucher in der Dritten Welt. Bis zum Jahr 2000 würden es über 70 Prozent sein, sagte Nigel Gray von der UICC voraus. Wenn es nicht gelingt, die Gefahren von Tabak deutlich zu machen, wird das Rauchen in 50 bis 100 Jahren mehr Menschen das Leben kosten als alle bisherigen Kriege zusammen, prophezeite Kongreßpräsident Carl Gottfried Schmidt.

Aber ein brauchbares Anti-Raucher-Rezept vermochten auch die versammelten Krebsforscher nicht auszumachen. Die Wunderpille, mit der man von einem Tag zum anderen zum Nichtraucher wird, ist ebenso wenig in Sicht. Wer allerdings mit Nikotin-Kaugummis oder Rachensprays hantiert, erspart seiner Lunge immerhin das gesundheitsschädigende Kohlenmonoxid und den krebserregenden Teer. Aber solche Medikamente könnten nur die kurzfristigen körperlichen Entzugserscheinungen vermindern.

Versuche, das Rauchen nur einzuschränken, sind nach Erfahrung des kanadischen Kongreßteilnehmers Richard Frecker wenig sinnvoll. Die meisten Raucher griffen schon bald wieder regelmäßig zur Zigarette. Erst im vierten oder fünften Anlauf hätten es über 90 Prozent der Exraucher geschafft. Doch auch wer endgültig auf die gefährlichen Glimmstengel verzichtet, kann nicht von heute auf morgen sein Krebsrisiko mindern. Nach der Verhaltensumstellung dürfen jahrelange, starke Raucher erst nach etwa fünfzehn Jahren mit einem „normalen“ Krebsrisiko rechnen.

Lieber eine dickere Scheibe Brot

Wenig umwerfend dürfte auch die Feststellung des kanadischen Krebsforschers Anthony B.Miller sein: Mit einer gesünderen Lebensweise läßt sich eine Menge gegen das Krebsrisiko tun. Eine fettreiche Ernährung begünstige den Brust- und Dickdarmkrebs. „Eine Umstellung auf Margarine ist aber auch nicht in Ordnung“, appelliert Miller. Auch das Fett der Margarine sei ein Krebsrisiko. Seine Geheimtip: Lieber eine dickere Scheibe Brot, dann rutscht die Marmelade auch ohne Butter oder Margarine nicht durch. Er riet, täglich fünf Mahlzeiten aus Obst und Gemüse zu verzehren. Wem das noch schmecken soll, hat er nicht verraten. Neben Zitrusfrüchten enthält besonders grünes und gelbes Gemüse viel Vitamin C, das vor Krebs schützen soll. Dagegen warnte Miller vor schädlichen Lebensmittelzusätzen, geräuchertem Fleisch und Cholesterin.

Aber, so fragt sich der Laie, wenn ich nicht rauche, nicht trinke und mich vitaminreich ernähre, bin ich trotzdem nicht vor Krebs gefeit. Denn den Schadstoffen aus der Umwelt bin ich täglich ausgeliefert. Nach einer Studie der Weltgesundheitsorganisation werden etwa 90 Prozent der Krebsarten durch Umwelteinflüsse verursacht. Das schienen die in Hamburg Versammelten nicht so zu sehen. Denn das Thema „Krebs durch Umwelteinflüsse“ fehlte völlig. Abgesehen von jenen Verursachern, die sich nicht mehr verleugnen lassen, wie Asbest und radioaktive Strahlung. Noch immer scheuen sich die Forscher, das Kind beim Namen zu nennen. Rita Süssmuth ließ sich in ihrer 22seitigen Eröffnungsrede nur zu dem einen Satz hinreißen, daß „der Kampf gegen den Krebs allerdings auch über Maßnahmen zur Reduzierung von krebserregenden Umwelteinflüssen geführt werden“ müsse. Immerhin konstatierte der amerikanische Gesundheitsexperte Michael P.Eriksen, daß jeder dritte berufstätige US-Bürger in einer potentiell krebserregenden Umgebung arbeitet. Nach seiner Meinung gehörten Chemikalien, Gase und Staub zu den häufigsten Gefahren am Arbeitsplatz. Er vermutete auch einen Zusammenhang zwischen Arbeitsbedingungen und privaten Lebensgewohnheiten. Denn wer am Arbeitsplatz zu leiden habe, greife auch häufiger zur Zigarette.

Fazit: Im Dunst des Zigarettenqualms, der übrigens auch die engagierten Krebsforscher und Mediziner umwölkte, blieben Umweltrisiken auf der Strecke. Krebs als rein individuelles Problem. Die Frage, warum geraucht, getrunken und gegessen wird, blieb auf der Strecke.