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Keine Illusionen

■ Wieder im Kino: „Kleine Fluchten“ von Yves Yersin

Damals, Ende der siebziger Jahre, sprach man von einer Renaissance des Schweizer Kinos. Das war ein bißchen übertrieben, denn eigentlich handelte es sich nur um drei Filme: Die Spitzenklöpplerin, Jonas, der im Jahre 2000 25 Jahre alt sein wird und inzwischen also 15 ist, und Kleine Fluchten. Aber die drei Filme hatten etwas gemeinsam: Sie waren direkt oder indirekt Reflexionen von '68, des Projekts der allgemeinen Weltverbesserung, das damals solange zurücklag wie heute die Startbahn- und Hausbesetzerzeit und unterdes gescheitert, institutionalisiert und verraten war. Alle drei Filme suchten, parallel zur entstehenden Alternativbewegung, die Sprengkraft nicht mehr in den Produktions-, sondern in privaten Verhältnissen, in der Beziehung wie die Spitzenklöpplerin, und in individuellen Revolten: die Kassiererin, die nicht kassiert in Jonas..., der alte Knecht Pipe, der nicht mehr funktionieren, sondern die Welt entdecken will in Kleine Fluchten. Sie vermittelten die immer noch richtige, damals neue und von machtlos schäumenden Altlinken in Organen wie 'Konkret‘ als kleinbürgerlich verschrieene alternative Grundeinsicht, daß man bei sich selbst anfangen müsse. Kleine Fluchten, der jetzt wieder in den Kinos läuft, macht sich dabei keine Illusionen.

Die „stille und einfache“ Erzählweise des Films feiert die Ereignisarmut des Landlebens nicht als das Eigentliche und Gute, sondern zeigt ein kritisches Bild davon. Die Machtverhältnisse auf dem Bauernhof - der Kampf von Vater und Sohn um die Herrschaft und die schwierige Position der Frau, der Tochter und des italienischen Gastarbeiters in dieser Konstellation - werden so genau ausgelotet wie die Grenzen, aber eben auch die Möglichkeiten und Schönheit der Revolte des alten Pipe. Auch in einem anderen Punkt steht Kleine Fluchten in Widerspruch zu alternativer Idyllik: Zu den Vehikeln von Pipes Emanzipation werden technische Geräte - das Moped, mit dem Pipe in ein paar hinreißenden Szenen umgehen lernt, und eine Polaroidkamera. Michel Robin ist ein genialer Schauspieler, und ihm ist vor allem zu verdanken, daß Pipe - anders als wahrscheinlich Jonas... - seit 1977 nicht gealtert ist.

Thierry Chervel

Yves Yersin: Kleine Fluchten, mit Michel Robin, Fabienne Barraud, Schweiz 1977, 138 Min.

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