Mörderischer Verkehr in Potsdam

■ Der Tod ist überall: Potsdamer Behörden sind erschreckt über die Zunahme von Autounfällen / Bisher einzige konkrete Gegenmaßnahme: Appell an die Bevölkerung

Potsdam. Die höchste Unfallbilanz seit über 34 Jahren mußte die Volkspolizei Potsdam im ersten Halbjahr 1990 verzeichnen: 5.409 Unfälle, dabei 127 Tote und 2.741 Verletzte - Zahlen, die sich die Potsdamer Behörden vor einem Jahr noch nicht vorstellen konnten. Allein in diesem Monat gab es 33 Verkehrstote im Bezirk Potsdam - mehr als doppelt soviele wie letztes Jahr im August.

Als einen „Aufschrei meines Fachgebietes“ bezeichnete der Leiter der Potsdamer Gerichtsmedizin, Dr. Kurt Markert, den verzweifelten Versuch, die Bevölkerung zu vorsichtigerem Fahren anzuhalten. Auf Alkohol am Steuer waren in den letzten Jahren konstant rund zehn Prozent der Unfälle zurückzuführen. Gestiegen sind dagegen die Unfallursachen Übermüdung und überhöhte Geschwindigkeit. Frontalzusammenstöße gab es in den letzten Wochen häufiger, weil Fahrer eingeschlafen waren und ihre Fahrzeuge auf die Gegenspur gerieten.

Typisches Beispiel für einen Unfall auf der DDR-Autobahn: Vor acht Wochen lud ein 20jähriger Westberliner zwei Potsdamer Freunde zum Angeln an der Ostsee ein. Auf dem nächtlichen Rückweg geriet der BMW auf dem Berliner Ring von der Fahrbahn ab und landete in der Autobahnböschung. Vermutete Unfallursache: Übermüdung des Fahrers. Erst im Morgengrauen wurde das Fahrzeug gefunden. Traurige Bilanz der nächtlichen Angelfahrt: die beiden Potsdamer sind tot, der Westberliner landete schwerverletzt im Krankenhaus.

Schnelle Gegenmaßnahmen hat die Potsdamer Volkspolizei nicht parat: Geplant sind die Einrichtung von Leitplanken und Standspuren auf den Autobahnen und der Aufbau von Ampelanlagen in der Innenstadt. Auch der Rettungsdienst soll dem verdreifachten Verkehrsaufkommen angepaßt werden. Aber technische Verbesserungen alleine reichen nicht: „Wir brauchen gute Straßen und gute Kraftfahrzeuge“, so Markert, doch entscheidend sei das Bewußtsein der Autofahrer.

Auf dieses Bewußtsein der Autofahrer muß die Polizei besonders bei Westberlinern, Bundesbürgern und Angehörigen der sowjetischen Armee setzen: Da es keine eindeutigen Vereinbarungen zwischen den Staaten gibt, können Ordnungsstrafen für zu schnelles Fahren oder Falschparken nicht eingeklagt werden. Bisher konnte Westberlinern noch die Transitsperre angedroht werden - doch das ist seit dem Wegfall der Grenzkontrollen auch nicht mehr möglich. Einzige Hoffnung (oder Drohung) der Behörden: Nach der Vereinigung müssen unbezahlt gebliebene Strafzettel vielleicht nachträglich gezahlt werden.

Neue Probleme bei Verkehrssicherheit und Aufklärung hat die Volkspolizei, da über die Hälfte der ehemaligen freiwilligen Helfer im Bereich Unfallvorbeugung nicht mehr tätig sind. Früher gaben die Staatsbetriebe der DDR den „Verkehrssicherheitsaktiven“ (DDR-Amtsdeutsch für Schülerlotsen bis Politessen) für ihre freiwillige Arbeit auf der Straße dienstfrei. Dies ist seit der Umstrukturierung der Betriebe nicht mehr möglich.

Ob ab dem 3. Oktober auch auf den DDR-Autobahnen die von Autofanatikern heiß herbeigesehnte „freie Fahrt für freie Bürger“ gilt, ist noch offen. „Es grenzt an Selbstmord“, so der VP-Oberrat Günter Fröhling, jetzt die Höchstgeschwindigkeit von 100 auf 120 oder 130 anzuheben. Weder die Qualität der Straßen noch die Fahrerfahrungen der DDRler ließen dies zu. Doch die Entscheidungsgewalt haben andere: „Wir können nur darauf aufmerksam machen“, meinte Fröhling.

Rochus Görgen