CAFESATZ

■ 3. Der durchsichtige Hauptmann

VON CHRISTOPH BUSCH

In einem Cafe jemand Fremdes ansprechen und sie oder ihn ganz persönliche Dinge fragen. Die Einstiegsfrage: Warum sitzen Sie hier?

Die nächste Folge der Cafesatz-Serie erscheint am kommenden Mittwoch.

Sonntagnachmittag im Cafe am Bahnhof. Schwarzblauer Pullover mit V-Ausschnitt, weißer Schillerkragen, graues, leicht gewelltes Haar nach hinten gekämmt: Der Mann liest in einem bibeldicken Buch: „Zitate von A bis Z“. Ich sage mein Sprüchlein: daß ich an einer Geschichte schriebe und deshalb Fremde im Cafe anspräche.

Leichte Skepsis, aber kein Widerstand. Also folgt meine Einstiegsfrage: Warum er hier sitze? Er habe in der Matinee „Zauberberg gesehen“ und wolle später jemanden besuchen Zwischenstation im Lieblingscafe. Sein Beruf? Soll ich raten. Auf dem Tisch liegt auch ein Büchlein namens „Notes“. „Dolmetscher“ fällt mir ein. Das sei gar nicht so weit weg. Denn wäre es nach seinen Eltern gegangen, hätte er nach dem Abitur auf Diplomatischen Dienst hin studiert. Aber nach 13 Jahren Schule habe er Geld verdienen wollen.

Also geht er, einer aus den 30ern, schon '57 freiwillig zur neugegründeten Bundeswehr. Heut ist er Hauptmann der „Kavallerie“, wie sie historisierend bei der Panzertruppe sagen, und von seinem Erfolg überzeugt: Es habe nur zwei brenzlige Situationen gegeben - Kuba '62 und Tschechoslowakei '68. Aber er habe seinen Jungs gleich gesagt: Da passiert nichts. Er habe eben von vorneherein gewußt, daß er nie auf einen Menschen würde schießen müssen, und habe ja auch recht behalten. Außerdem gebe es bei der Bundeswehr keinen Todesschuß. Ziel sei Kampfunfähigkeit, seien die Beine, die Hand des Gegners an der Waffe. Das Mörder-Urteil sei deshalb Blödsinn. Getötet werde absichtlich niemand. Der Tod sei nur eine bedauerliche Folgeerscheinung des Krieges.

Der möge ja für den einzelnen Menschen unangenehm ausfallen. Aber aus kosmischer Sicht seien Kriege nur klärende Durchgangszeiten, der Konflikt in El Salvador eben nur eine Sommersprosse der Weltgeschichte und die Intifada Idiotie von beiden Seiten. Doch insgesamt sei die Menschheit dabei, langsam, aber sicher vernünftig zu werden. Nur hinkten einige hinterher. Darum bräuchten wir noch die Bundeswehr, obwohl Armeen eigentlich das Überflüssigste auf der Welt seien. Aber, wie gesagt, es gehe voran, und 2025 werde die Welt in einem ganz passablen Zustand sein.

Der Hauptmann blickt eben nicht nur im Panzer durch, sondern ist auch Freimaurer und Kosmoslehrling: Der Kosmos habe seine eigenen Gesetze jenseits unserer irdischen Schulweisheiten. Eine Regel zum Beispiel sei, den Zehnten zu geben. Das habe schon Rockefeller von seinem ersten Lehrlingsgehalt, einem Dollar fuffzig, gemacht. Denn Geld habe kosmische Kraft, und die Zehntenspende verzinse sich wie von selbst: Auszahlung in Form besten Karmas. Nur Bettlern dürfe nichts gegeben werden. Die täten's versaufen. Das aber sei nicht weise, weil nachweislich schädlich, weshalb für derartige Spenden nur mieses Karma zurückflösse. Er gebe seinen Zehnten einem Freund, der im Mittelpunkt Europas, In Höhr-Grenzhausen im Westerwald, dem spiritistischen Zentrum ein Frauenhaus angliedern wolle. Für 25 Frauen, die sonst abtreiben müßten.

Wie er auf diesen Trip gekommen sei? Das Wort nehme er mir nicht übel, weil es mit Tripper, hahah, ja nichts zu tun habe, und zur Sache: Suchender sei er, seit er denken könne

-woher, wozu, wohin? An Karl May habe er schon früh diese Fragen gestellt. '79 habe ihm seine Frau dann zum Geburtstag Erinnerungen an die Zukunft von Däniken geschenkt. Seither strebe er danach, durch kosmisches Wissen und Weisheit vom Schulplaneten Erde in höhere Klassen des Universums aufzusteigen. Aus seinem schwarzen Aktenkoffer holt er aktuelles Schulungsmaterial: Entdeckung der Blütentherapie, Jesus - größtes Medium aller Zeiten.

Da alles nur Schwingung sei, könne man es bei höchster Vollendung zur Durchsichtigkeit bringen. In Indien sei er einem solchen Meister der Transparenz begegnet. Was da denn überhaupt noch zu sehen sei? Eine Art gläserner Mensch. Wenn er selbst schon so weit wäre, sähe ich jetzt durch ihn durch die Rauhfaser an der Cafehauswand. Auch das Stadium vor der Vollverglasung, Halbdurchsichtigkeit mit quallenähnlichem Leuchten, hat der Hauptmann, soweit ich meinen irdischen Augen trauen darf, noch nicht erreicht.

Eine Sache, deren Überprüfung für mich nicht ohne strafrechtliche Folgen bliebe, ist für den Panzermann klar: Er werde nicht sterben. Denn Tod sei eigentlich Geburt, beides nur zwei Seiten einer Medaille. Und es gebe, das sei ja veröffentlicht und also bewiesen, Menschen, die über 6.000 Jahre alt seien. Der Tod sei eine Entscheidung. Aber nur für den kosmisch Weisen. Ich - er meint mich - hätte wahrscheinlich nicht viel zu entscheiden, wenn er auf mich schösse.

Zu den kosmischen Selbstverständlichkeiten gehöre auch der Erwerb ungeheurer Kräfte. Jesus habe zum Beispiel mal im Himalaya 1.000 Räuber gegen eine unsichtbare Energiewand prallen lassen, und in dem Durcheinander hätten die sich alle gegenseitig umgebracht. Da sähe die Bundeswehr alt aus, wenn 50 solcher Energiebündel gegen sie antreten würden, fällt mir ein. Er gibt mir recht: Es genüge sogar schon einer mit Kosmoskraft: Geschosse würden wirkungslos abprallen, die Panzer sich überschlagen.

Wie die Mitmenschen zu seiner Weisheit stünden? Seit einigen Jahren ist er geschieden. Eine Familie sei wie ein Auto. Wenn Vater und Mutter nicht mehr übereinstimmten, liefe nichts mehr, und was nicht richtig in den kosmischen Ablauf eingeordnet sei, müsse zugrunde gehen. Außerdem sei die Liebe zu weiblichen Wesen sowieso nicht gottgewollt. Weil sie andere Menschen ausschlösse. Mit dieser Art Liebe habe er im Moment Gott sei Dank keine Probleme. Bei der Bundeswehr habe er gelegentlich Kummer mit Vorgesetzten. Einer habe ihn einen „Kolibri“ genannt, ein anderer ihn als „gepunktetes Maiglöckchen“ bezeichnet.

Aber eigentlich habe die Bundeswehr die Überlegenheit des Geistes über die Materie schon früh selbst erkannt. Leitspruch der Führungsakademie, die er auch besucht habe, sei: „Mens agitat molem“. Der Geist bewegt die Masse, und Masse, das seien fast alle. Nur eine Minderheit blicke durch. Alle anderen besähen das gesellschaftliche Spiel der Kräfte wie ein Match Preussen Münsters und gäben ohne Detailkenne ihren Senf dazu. Es sei die Ungenauigkeit, die Unfrieden schaffe. Toleranz höre auf, wo nachgewiesenermaßen Unwissenheit begänne: Vergleiche Rauchen, Saufen, Rumhuren.

Ich wende ein, das passe nicht zu seiner vorhergehenden Feststellung der Relativität aller Wahrheit und seinem Laotse-Zitat, daß das Einfache der Wahrheit am nächsten sei. Wer solle denn über Dummheit und Weisheit entscheiden? Er bleibt dabei: Nicht alle Stimmen hätten dasselbe Gewicht. Läßt sich nicht irritieren durch meinen Hinweis, daß auch die Nazis die Stimmen lieber gewogen als gezählt hätten.

Er möchte Wahlen und Parteien abschaffen. (Auch Kohl habe mal geschrieben, daß Mehrheiten nie recht hätten.) 500 weise Individuen sollten statt dessen entscheiden. Wie die gefunden würden? Erstens hätten die Menschen ein sicheres, spontanes Gefühl, welchem Führer sie sich anvertrauen dürften. Zweitens müßten die 500 eine Art Reifeprüfung bestehen. Erste Prüfungsfrage ungefähr: Glauben Sie an eine Schöpfungskraft der Natur?

Mit CDU-Politik, für die er in Rat und Kreistag gewesen sei, habe er nichts mehr zu tun. Allerdings habe er kürzlich den Möllemann getroffen, und der habe ihn gefragt, ob er nicht in die F.D.P eintreten wolle. Jedenfalls will der Hauptmann unseren „Schulplaneten“ nicht einfach dem Schicksal überlassen. Er studiert, „was die Welt im innersten zusammenhält“ und was ihm seine Eltern wahrscheinlich damals für den diplomatischen Dienst anrieten: Jura und Wirtschaftswissenschaften. Er möchte die Rechtsordnung vermenschlichen. Zwar sei auch diese wie die hiesige Demokratie unter den schlechten die beste. Aber daß Tiere wie Sachen behandelt würden und ungeborenes Leben getötet werden dürfe, sei nicht in Ordnung.

Der Verbesserungswunsch des Hauptmanns hat mächtige Gegner: Die Bösen hätten einen eigenen Verein, die 99er-Loge. Das sei keine Freimaurervereinigung, sondern eine Verschwörung zum Bösen. Khomeini sei dabei. Adolf Hitler, der nur nach irdischen Maßstäben tot sei, natürlich auch. Den Namen hätten die 99er daher, daß ihr Chef und hundertstes Mitglied der Satan sei. Der zähle aber nicht mit, weil er keine irdische Fleischwerdung kenne. Im Unterschied zu den zählenden Mitgliedern wie Khomeini und Adolf Hitler, der nur nach irdischen Maßstäben tot sei.

Doch der Panzerführer aus Passion ist mit besonderem Wissen im Bunde: die Entwicklung in der DDR habe er lange kommen sehen, von den Ereignissen des 9. November vorher gewußt. Aber er habe das geheimhalten müssen. Als Geheimnisträger der Bundeswehr? Nein als kosmisch Höhergestufter. Am 9. November vor 66 Jahren habe Adolf Hitler in München geputscht. Mit Hilfe der Zahlenmagie hätten sich so die DDR -Wende und ihr Zeitpunkt vorab bestimmen lassen.

Ich lasse mir die Adresse des kugelsicheren Soldaten geben, damit ich mich nicht dauernd kneifen muß, und schiebe meine Telefonnummer über den Tisch mit der Bitte um Nachricht, wenn er den Zeitpunkt der Wiedervereinigung vorhersagen könne. Das dürfe er nicht, entschuldigt er sich. Dann wäre es mit ihm als Kosmo-Geheimnisträger vorbei. Aber er könne mir die Buchstaben meines Namens in magische Zahlen transferieren. Wir würden noch voneinander hören. 3. DER DURCHSICHTIGE HAUPTMANN