Gesamtdeutsch bleibt am (Atom-) Ball

■ Auch nach dem von Bonn und Ost-Berlin für Gesamtdeutschland erklärten Verzicht auf ABC-Waffen bleiben atomare Optionen - etwa im Rahmen der WEU - offen / Weitergehende DDR-Positionen blieben bei den Einigungsverhandlungen auf der Strecke

Aus Genf Andreas Zumach

Auch nach dem von den Regierungen in Bonn und Ost-Berlin für das künftige Gesamtdeutschland erklärten Verzicht auf eigene Atom-, Chemie- und biologische Waffen bleiben bislang von der Bundesregierung verfolgte Optionen auf die Mitverfügung über atomare Waffen beziehungsweise die atomare Teilhabe offen. Bei der Formulierung der Politik des vereinten Deutschlands in dieser Frage sowie hinsichtlich eines Atomwaffenstopps und des Exportes atomarer Technologie hat sich Bonn gegenüber Ost-Berlin weitgehend durchgesetzt.

Zugesagt hatten die beiden deutschen Regierungen den Verzicht auf eigene ABC-Waffen bereits im Rahmen der 4 + 2 -Gespräche mit den vier Siegermächten des Zweiten Weltkrieges über die äußeren Aspekte der deutschen Einheit. Letzte Woche „bekräftigte“ Bundesaußenminister Genscher vor der vierten Konferenz zur Überprüfung des Atomwaffensperrvertrages (NPT) in Genf „den Verzicht der Bundesrepublik Deutschland auf den Besitz von und die Verfügung über ABC-Waffen“. Zum ersten Mal hatte die Bundesrepublik diesen Verzicht anläßlich ihres Beitritts zur Westeuropäischen Union (WEU) im Jahre 1954 ausgesprochen. Damals wie heute blieb die Möglichkeit einer deutschen Beteiligung an der Entwicklung und Herstellung von Atomwaffen in einem Drittland jedoch offen.

Bei der Unterzeichnung des Atomwaffensperrvertrages 1974 machte die damalige Schmidt/Genscher-Regierung sogar einen ausdrücklichen Vorbehalt geltend: Die Möglichkeit zur Mitverfügung über Atomwaffen im Rahmen einer künftigen (west) europäischen politischen Union bleibe von der deutschen Unterschrift unter dem NPT-Vertrag unberührt. Eine solche politische Union, wie sie ja von der derzeitigen Bundesregierung angestrebt wird, solle Atommacht sein dürfen, wenn einer ihrer Mitgliedsstaaten Atommacht ist. Dieser Vorbehalt wurde seinerzeit in einem bilateralen Abkommen zwischen Bonn und Washington zusätzlich festgeschrieben und bei den jüngsten Erklärungen zum ABC -Verzicht nicht zurückgenommen. Er gilt weiterhin. Da davon auszugehen ist, daß sowohl Frankreich wie Großbritannien Mitglied einer (west)-europäischen Union würden, erhielte Deutschland auf diesem Umweg die Mitverfügung über Atomwaffen.

Vom feierlich erklärten Verzicht auf eigene Atomwaffen unberührt bleibt auch die deutsche „Teilhabe“ an atomaren Waffen anderer Staaten. Bis 1987 bestand sie in Form der Pershing-Ia-Raketen der Bundeswehr, für die die US -Streitkräfte in der BRD in Friedenszeiten die Atomsprengköpfe unter Verschluß hielten. Erst nach erheblichem Widerstand und unter massivem Druck Washingtons war Bundeskanzler Kohl seinerzeit bereit, diese von ihm als „Drittstaatensysteme“ bezeichneten Waffen aufzugeben. Die Sowjetunion hatte darauf bestanden, daß die PershingIa unter den INF-Mittelstreckenvertrag fallen und abgezogen werden. Seitdem ist die Bundesregierung bestrebt, diese Form der „atomaren Teilhabe“ wiederherzustellen. Konkret wird derzeit innerhalb der Nato diskutiert, neue atomare Abstandsraketen (TASM) für Kampfflugzeuge der Bundesluftwaffe (Tornado, F-16 und andere) anzuschaffen. In Friedenszeiten sollen die TASM bei amerikanischen und britischen Streitkräften in der BRD oder auch nur in Großbritannien gelagert und in Krisenzeiten an die Bundesluftwaffe ausgeliefert werden.

Die Regierung der DDR wollte diese Optionen für das künftige Deutschland ausschließen, hat sich mit dieser Forderung aber - zumindest bislang - nicht durchgesetzt. Das geht aus den Unterlagen beider Seiten aus den Verhandlungen zum deutsch-deutschen Vereinigungsvertrag hervor, die der taz vorliegen. Bisher vergeblich forderten die DDR -Unterhändler auch die Festschreibung des ABC -Waffenverzichts in der Verfassung des künftigen Gesamtdeutschlands. In Genschers Rede vor der NPT-Konferenz fand sich darauf ebenso ein Hinweis, wie auf den Abzug sämtlicher Atomwaffen - also auch aller ausländischen - von (gesamt) deutschem Boden. Der Staatssekretär im DDR -Außenministerium, Dohmke forderte in seiner Genfer Rede ausdrücklich die Verankerung des ABC-Verzichts in der Verfassung sowie - unter Berufung auf entsprechende Absichtserklärungen Kohls und Gorbatschows bei deren Treffen im Kaukasus - eine „atomwaffenfreie Zone Deutschland“.

Dissens besteht auch hinsichtlich der Dringlichkeit eines umfassenden Atomwaffenteststopps. Die DDR hat sich seit Jahren für diese Forderung eingesetzt und für eine Konferenz aller Unterzeichnerstaaten des begrenzten Teststoppabkommens von 1963 im Januar 1991 in New York gestimmt. Dort soll nach dem Willen von über zwei Drittel der Unterzeichnerstaaten der Vertrag von 1963 um das Verbot unteririscher Atomtests erweitert werden. Die BRD stimmte gegen diese Konferenz „aus Rücksicht auf unsere atomaren Bündnispartner USA, Frankreich und Großbritannien“, wie ein Bonner Regierungsvertreter letzte Woche formulierte. Die nach den Wahlen im Dezember diesen Jahres gebildete gesamtdeutsche Regierung werde sich an der New Yorker Konferenz zwar „konstruktiv“ beteiligen. Doch sei nicht zu erwarten, daß dabei „viel herauskommt“.