Geometrische Traumbuchten

■ Anna Mariani zeigt „Fassaden“, Fotos aus Nordost-Brasilien im Haus der Kulturen der Welt

Oh, Ästhetik des Gegebenen! Häuser, einelne kleine Steinausschnitte, die für sich so dastehen, wie die Pinsel der Bewohner sie gewollt haben, rosa-weiß, weiß-blau, gelb -blau, türkis-rot. Wie Würfelseiten fallen sie auseinander, und jede Würfelseite unterscheidet sich von der anderen durch den besonderen I-Punkt, der eben sie ausmacht. Zu sehen sind die Kleinigkeiten der Fassaden-Individualität und mehr ist es nicht - ein bißchen Himmel, etwas Lehmstraße davor oder seitlich, einzelne Bäume, die sich wacker halten, denn es ist Brasilien und riecht sehr heiß. Kein Mensch weit und breit, nicht einmal offene Fensterläden - keine Grundregel der Fotografie wurde eingehalten. Im vorletzten 'Stern‘ haben sie nämlich bunte Bilder aus der grauen DDR („Der Lack ist ab“) gezeigt und immer eine alte Frau, entweder in roter oder blauer Kittelschürze, davorgestellt. Oder einen abgerackerten Mann mit Zeitung vor ein melancholisch-zerbröckelndes Haus gelehnt - ein künstlerisch einwandfrei anerkanntes Verfahren, Leben in die Bude zu bringen. Ob Leben da ist oder nicht, man macht es eben so. Anna Mariani macht es nicht so, und das ist eine unglaubliche Wohltat.

Sie hat sehr schöne Bilder fotografiert - und nicht gemalt. „Malen mit der Kamera“ ist wieder so ein Quatsch, den sich gewisse Fetischisten ausgedacht haben, sie kratzen dann mit dem Objektiv im Sand herum, oder was will uns diese Formulierung sagen? Mittels technischer Raffitücke wird ein ästhetisches Objekt hergestellt - man nennt sowas auch optische Effekthascherei - das sich dann locker vom Hocker als Wirklichkeitsbeschreibung ausgibt. Schließlich ist Fotografie qua Medium immer auch Dokumentation. Der zurückgenommene Zauberstab des Fotografen, eine sachlich -bescheidene Bildgestaltung, wird dann ohne weiteres Federlesen als kreatives Manko gewertet.

Kreativ waren hier die Brasilianer, und das genügt vorerst. „Zum ersten Mal wurde mir auch bewußt, daß diese Häuser (...) die in der Mehrzahl aus getünchten und bemalten Lehmwänden bestanden, Edelsteine waren, wie sie in meinen Träumen vorkamen. Und die in bestimmten Momenten im Sonnenlicht so aufglänzten, daß Gott sie mit Freude erblicken mußte. Der Rausch des Tanzes war so groß, daß er selbst die Häuser tanzen machte“ (Ariano Suassuna). Die Häuser, sie zeigen gerade Steinfronten mit einer Tür und ein oder zwei Fenstern darin, mit zackig und rund gewölbten Giebelformen, mit schrägen Treppengiebeln oder mit aufgearbeiteten Reliefstufen. Zwei-, höchstens dreifarbig gehalten, sind Muster-Ziereinheiten über die ganze Front gegossen, und das wirkt wie kubistische Malerei, die ganz naiv daherkommt, im originalen Sinne des Wortes. Diese Künstler mußten nicht erst wieder naiv werden, um Formen geometrisch zu zerlegen und den Reiz oder das Beruhigende der ganz einfachen, klaren Muster zu erkennen. Dreiecke oder rhythmisch versetzte Quader liegen oberhalb der Fenster an der Wand, weiße Farbblöcke ziehen sich seitlich der Fenster bis zu einer gewissen Höhe herab; es sind asymmetrische oder symmetrische Musterrhythmen, auch Punkte, Blumen oder Winkel - eine Unendlichkeit von Mosaiken im Gesamtmosaik der Häuser selbst.

So läuft man in der Ausstellung durch ein Paradies anderer Denkart, es ist Legoland ohne Lego; es sind Form, Muster, Farbe, die minimalistisch vormachen, was sie sind: der Stoff, aus dem Schönheit entspringt. Und das alles, damit die Schutzgeister beschwichtigt sind und über das Haus wachen. Mag sich die malerische Zierde alle halbe Jahre verändern, mögen die Zöpfe, Girlanden, Stricke dann an anderen Stellen sich um die Geometrie ranken - Traumbuchten in der Wunderwelt des Pastells bleiben sie. Die Steinschnitzereien sind einmal geschehen, und die Fotografie von Anna Mariani bringt diesen rechtwinkligen Phantasterien nun noch Diagonalen bei: Schattenwürfe von genial schönen Fernsehleitungen, und da gehört was dazu!

Anna Mariani schreibt, daß das „Vorhandensein der Malerei mit der Isolierung und Entfernung der Orte zunahm“. Diese Orte, Dörfer im Nordosten Brasiliens, zeigen sich in der Vogelperspektive als zwei lange Hausreihen von zehn bis zwanzig Häusern direkt nebeneinander, um einen Platz oval herumgelegt, etwas abgerückt nochmal zwei parallele Hausreihen, und Lehmboden über Lehmboden drumherum. Ein bißchen Gestrüpp, zwei Hühner im ganzen. Um „dieses Leben in Armut zu überwinden“ (Caetano Veloso), sind die Häuser bemalt worden, und Anna Mariani hat sie ohne Pathos fotografiert.

Sophia Ferdinand

„Fassaden“ von Anna Mariani, noch bis zum 7. Oktober im Haus der Kulturen der Welt, Di-So 10-20 Uhr, Eintritt frei.