: Politik und Semantik
■ Der französische Islamist Bruno Etienne, Autor von „L'islamisme radical“, über den Vergleich von Saddam Hussein mit Adolf Hitler und Saladin
DOKUMENTATION
Herr Professor, man hat Saddam Hussein mit Hitler verglichen. Man nannte ihn Hitler des Nahen Ostens. Wie kann dies für die Meinungsmacher in Bagdad etwas Positives sein?
Bruno Etienne: Unter den Arabern ist die Person Hitler nicht so negativ besetzt, wie sie es bei uns ist. Als allgemeine Regel kann gelten: Das kollektive Gedächtnis und die Vorstellungswelt jener Völker sind von denen der westlichen Völker im wesentlichen weit entfernt. Versetzen Sie sich einmal in die Rolle der ägyptischen, tunesischen, palästinensischen und jordanischen Massen. Sie lesen und hören sagen: Saddam Hussein gleich Hitler. Jeder Führer, jeder charismatische Chef, sogar ein Hitler-Saddam, der den Zionismus und die Anwesenheit der Amerikaner im Nahen Osten brandmarkt, wird die Unterstützung der Massen erhalten, auch wenn diese wissen, daß das irakische Regime hart und geradezu faschistisch ist. Unsere Presse meint beispielsweise ironisch: Saddam Hussein hält sich für einen neuen Saladin. Wir schreiben es in allen Zeitungen und knallen eine Karikatur hinzu. Wir vergessen, daß Saladin für die Leute jener Länder eine heilige Person, ein positiver Held ist. Auf die Karikaturen reagiert man gereizt. Ja, viele glauben sogar wirklich, daß der Mann von Bagdad ein zweiter Saladin ist. Ich will Saddam Hussein beileibe nicht verteidigen. Meines Erachtens ist er ein arabischer Imperialist. Er ist ein laizistischer Politiker der Baath -Partei und ist in der islamischen Welt verwurzelt. Bei uns würde man sagen: Er ist getauft, aber er praktiziert nicht.
Heißt das vielleicht, daß die Massenmedien das Spiel des irakischen Diktators spielen, wenn sie ihn so aufbauschen? Greift Saddam Hussein mit der Geiselnahme auf eine islamische Tradition zurück?
Auch das Christentum kennt die Geiselnahme. In den Texten über die Beziehungen zwischen westlicher Welt und Islam wird auf den Rückgriff der Entführung von Personen verwiesen. Es ist also nicht eine typisch islamische Praxis, auch wenn es als ein Erbe der antiken Nomadenvölker angesehen werden muß. Ich schreibe gerade ein Buch über den Emir Abd el Kader, der im 19. Jahrhundert lebte und den Napoleon III. zum Kaiser der Araber ernennen wollte. Abd el Kader verzichtete auf sein Essen, um die Gefangenen zu ernähren. Jedesmal wenn ein König oder ein Emir sich einen Stamm unterwarf, wurde ihm als Pfand der erstgeborene Sohn des Stammesanführers übergeben, mit dem Ziel, so meine ich, den Stamm zu gewinnen. Die Franzosen machten im vergangenen Jahrhundert dasselbe mit den Algeriern. Wie auch sonst, so hält uns Saddam Hussein auch mit der Geiselnahme für Idioten, er spielt mit der Bedeutung von Worten. Er weiß, daß im Unterbewußtsein der islamischen Massen das Wort Geisel sich anders als bei uns anhört. Für einen Araber bedeutet es Garantie, Kaution.
Das macht dem Westen Angst, und in der arabischen Welt stößt es auf Verständnis. Was sagt der Koran diesbezüglich?
Die Pflichten gegenüber Gästen und Gefangenen sind dieselben, die man gegenüber den Waisen hat. In der neunten Sure, Vers fünf, heißt es: Laßt die bekehrten Gefangenen ihren Weg fortsetzen. Der Irak, und hier haben Sie wieder ein Beispiel, sucht eine Rechtfertigung für die Beute, die er mit der Invasion Kuwaits gemacht hat. Der Koran sagt, daß die Beute den armen Emigranten zusteht, die fern von ihrem Land und ihrem Besitz leben. Die armen Emigranten sind in unserem Fall die Palästinenser. Das ist ein sehr geschickter Schachzug, denn die arabischen Massen schauen Saddam Hussein mit islamischen Augen an.
Wo irren die Massenmedien sonst noch?
Schauen Sie, wie im Westen gewisse Sätze von Exponenten des irakischen Regimes ankommen. Einer hat gesagt: „Wir werden Bush die Körper seiner Marines in Säcken verpackt zuschicken.“ Es folgte eine Woge der Empörung, nicht so sehr über die Toten, sondern über die Säcke. Aber es ist ganz einfach: In der arabischen Welt benutzt man Säcke oder Leintücher. Der Islam verbietet den Sarg. Ein anderer Exponent hat angekündigt: „Das irakische Volk wird jeden amerikanischen Piloten, der auf seine Erde fällt, aufessen.“ Die Presse hat geschrieen: Die Iraker sind Menschenfresser. Die Bedeutung der arabischen Wörter war aber eine andere: Die Amerikaner werden für uns ein einziger Happen, ein einziger Bissen sein, das heißt wir werden sie besiegen.
Saddam Hussein muß nun den toten Khomeini als neuer dämonischer Führer ersetzen. Die Wörter in den westlichen Zeitungen und im Fernsehen helfen ihm dabei.
Aus Corriere della Serra vom 24.8.90. Übersetzung: thos
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