Lenin stürzt

■ Nächtlicher Abriß in Tiflis

Tiflis (ap/taz) - Gedenksäulen und Statuen zu errichten und dann wieder einzureißen, gehört zum Dauerprogramm neuzeitlicher Revolutionen. Jetzt also ist Wladimir Iljitsch an der Reihe. In nächtlicher Arbeit, unter frenetischem Beifall einiger hundert Besucher, die dem Schauspiel ihre Nachtruhe opferten, wurde die Kolossalstatue Lenins im georgischen Tiflis gekippt. Der Abriß folgte einem Dekret des obersten Sowjets von Georgien, der es offenbar leid war, den steinernen Riesen rund um die Uhr vor Farbbeutelanschlägen zu schützen. Damit fand eine landesweite Sturzaktion, der schon mehrere Dutzend Dorf- und Kleinstadt-Lenins zum Opfer gefallen waren, ihren krönenden Abschluß. Hingegen sollen sich an abgelegenen Stätten nach wie vor Statuen von Georgiens liebstem Sohn Dschugashvili befinden. Hier streiten georgischer Patriotismus und antistalinistische Verve in der Seele der Denkmalsstürzer. Denkmäler lassen sich schnell beseitigen - was aber soll an ihre Stelle treten? Will man der Frauen und Männer gedenken, die die kurzlebige menschewistische Republik Georgien nach der Oktoberrevolution aus der Taufe gehoben hatten? Das wäre insoweit von Vorteil, als aus Anlaß der Einweihung geübte Festredner der zweiten Internationale eingeladen werden könnten. Oder will man etwa gänzlich auf die steinerne oder erzene Feier der neugewonnen Unabhängigkeit verzichten? Undenkbar!

CS