In der DDR türmt sich ein Lehrlingsberg auf

■ 30.000 LehrlingsanwärterInnen gehen in diesem Jahr leer aus / Lehrstellenaktion in Halle / Betriebsschulen dürfen weiterbetrieben werden / In Halle wird auf Kosten der BRD ein 13,5-Millionen-Mark-Projekt für Fortbildungs- und Technologiezentrum errichtet

Von Axel Kintzinger

Berlin (taz) - So schnell Opfer der Wirtschafts- und Währungsunion zu werden, hatten sich die Schulabgänger der DDR wohl nicht gedacht. 120.000 junge Frauen und Männer werden jetzt auf den Ausbildungsmarkt entlassen - und für rund 30.000 bedeutet das in diesem Jahr nicht automatisch, eine Lehrstelle zu finden. Von Zuteilung, wie in früheren Zeiten, kann schon gar keine Rede sein. Einer der wesentlichen Gründe für den ausgedünnten Lehrstellenbereich ist die Tendenz vieler Unternehmen, den eigenen Ausbildungssektor kräftig zu beschneiden.

In Halle versucht man darauf zu reagieren, in dem auf Kosten der BRD für 13,5 Millionen Mark ein Fortbildungs- und Technolgiezentrum errichtet wurde. Gestern fand, unter Beteiligung von Bundeskanzler Kohl und Ministerpräsident de Maiziere, die Einweihung statt. Ab September sollen sich in dem Zentrum 320 Lehrlinge in Ausbildungskursen qualifizieren, die Ausstattung wird sich unter anderem auf die Bereiche Metall, Kraftfahrzeugtechnik, Elektronik, Datenverarbeitung und Bau konzentrieren. Ob das reicht? Nicht nur die Schulabgänger dieses Jahres müssen zittern. Auch wer schon in der Berufsausbildung steckt, hat oftmals keine Garantie auf Beendigung der Lehre im jetzigen Betrieb. So wurde etwa der ehemalige VEB Deutrans, vormals größte Speditionsfirma der DDR, in seine Bestandteile zerlegt. Das Unternehmen wurde entflochten, die bisherige Hauptverwaltung fungiert nur noch als Konkursabwickler der Firma. Sie aber war bisher für die Berufsausbildung des Unternehmens zuständig. Die Verantwortlichen zierten sich nicht lange: Schnell schloß man die Ausbildungsstätte, dem Lehrpersonal wurde zum 30. September gekündigt. Mit nachhaltigem Druck erreichten die Auszubildenden wenigstens, in anderen Firmen

-oftmals Unternehmen, die Deutrans-Teile übernommen hatten

-unterzukommen. Qualifizierte Ausbilder sind dort jedoch Mangelware. Und bei dem Versuch, den Bankrott zumindest für die Hauptberuflichen halbwegs akzeptabel über die Bühne zu bekommen, denkt man an die Lehrlinge zuletzt. Kein Wunder: Ausbildungsplätze kosten Geld. Daher versuchen die Firmen, den Ausbildungsbereich möglichst allein an den Staat abzuschieben. Immerhin: Die von Schließung bedrohten Betriebsschulen, an denen neben einer Berufsausbildung auch das Abitur gebaut werden kann, sollen erhalten bleiben. In der Vergangenheit hatten sich ein Drittel der Studenten dort ihre Hochschulzulassung geholt. Das DDR-Bildungsministerium reagierte gestern auf anderslautende Meldungen der letzten Tage und beruft sich auf das im Juli von der Volkskammer beschlossene Gesetz über Berufsschulen. Darin heißt es ausdrücklich: „Der Träger gewährleistet an mindestens einer Berufsschule den erweiterten allgemeinbildenden Unterricht für die Jugendlichen, die einen Lehrvertrag über eine Berufsausbildung mit Abitur mit Betrieben des Einzugsbereiches abgeschlossen haben.“ Und: Zum Zeitpunkt des Inkrafttreten des Gesetzes abgeschlossene Lehrverträge über eine Berufsausbildung mit Abitur würden nach den neuen Vorschriften zu Ende geführt. Diese Regelung ist jedoch zeitlich begrenzt. Sie gilt nur solange, bis die fünf neuen Länder der jetzigen DDR eigene Schulgesetze beschlossen haben. Viele Schulabgänger werden auf die angespannte Lehrstellensituation reagieren, indem sie sich in der BRD oder in West-Berlin umsehen. Dort scheinen die Aussichten auf Erfolg um ein Vielfaches größer, in West-Berlin etwa zählte das Landesarbeitsamt zuletzt nur 3.500 Bewerber auf 4.500 freie Stellen. Einen Run verzeichnet schon jetzt das Bankgewerbe. Die meisten Jugendlichen, die sich im Westberliner Arbeitsamt beraten ließen, äußerten den Wunsch nach einer Lehrstelle in dieser Branche.