Das Gelöbnis des Islam

■ Eine Freiheit, die bei der individuellen Moral beginnt

EUROFACETTEN

Die Sichtweise der westlichen Gesellschaft über den Islam war seit jeher ideologisch und politisch bestimmt. Die Kette der Fehler, die damit begann, daß während der Kreuzzüge die Kirche im Namen der Religion gegen den Islam und die Moslems aufhetzte, setzte sich fort. Die Orientalisten bestimmten die Richtung einer Politik, die pseudowissenschaftlich im Interesse der christlichen Gesellschaft und im Glauben an die Überlegenheit der westlichen Philosophie ein wirlichkeitsfremdes Bild des Islam und der Moslems entwarf. Es folgten die Anthropologen, die versuchten, die kulturellen Grundlagen und Verhaltensregeln der Gesellschaft zu interpretieren. Die grundlegenden Werte der islamischen Welt und ihre Zurückgebliebenheit heute rühren nicht von ihrem Glauben, ihrer Kultur und ihrer Geschichte. Die Zurückgebliebenheit ist von den Kolonialisten aufoktroyiert.

Wenn wir heute von versmogter Luft, vergifteten Flüssen, Bodenverseuchung und dem Ozonloch reden und der Mensch gegenüber der Maschine vereinsamt die Freude am Leben verloren hat, so ist dafür die westliche Wissenschaft, Technologie und Politik verantwortlich. Im Gegensatz zur Selbstdarstellung war die Genese des Westens ganz und gar nicht auf menschlichen und moralischen Prinzipien begründet. Wie Marcel Parnaya sagt: „Wenn sie sich in Kalkutta umschauen, werden sie dreckige und verarmte Menschen sehen und sich wundern, wie diese Menschen in dem Schmutz arbeiten. Diese Menschen rühren den Mörtel für den Wohlstand und das Glück des Westens.“

Der Westen rühmt sich heute mit Menschenrechten und Demokratie. Wir wissen, daß der wirtschaftliche Wohlstand, der die Existenz der westlichen Demokratien ermöglicht, gleichzeitig die Existenz von Demokratien zweiter Klasse, von Hinterhofdemokratien bedeutet.

In dem einigen Europa von 1992 werden die beiden Kulturen nocheinmal aufeinandertreffen, wenn die rund 25 Millionen europäischen Moslems ihr Recht auf Selbstbestimmung und kulturelle Identität fordern. Dann werden wir sehen, inwieweit der Westen tatsächlich laizistisch ist und Achtung vor dem Recht und den Menschenrechten hat. Wenn die europäischen Moslems ihren Arbeiterkittel ablegen und als gleichberechtigte Bürger das Recht auf ein Leben entsprechend ihres Glaubens fordern, wird der Westen nicht mit einem Islam, der von der westlichen Intelligenz in eine Zwangsjacke gesteckt ist, sondern mit einem autonomen Islam konfrontiert werden. Der Westen wird den Islam und die Moslems nicht durch die Brille der westlichen Medien Besetzung des Kuwait durch den Irak, der Golfkrieg zwischen Iran und Irak, das Massaker von Mekka und die Tunnelkatastrophe - sondern durch die eigene Lebenspraxis kennenernen.

Der Islam ist die Religion des Friedens und der Freiheit. Der Islam hat mehr Freiheiten als die westlichen Demokratien. Keine politisch institutionalisierte Freiheit, sondern eine Freiheit, die bei der individuellen Moral beginnt und sie in einen die Lebenspraxis bestimmenden Willen transformiert. Der Islam unterbreitet ein neues Rechtssystem, das auf Recht und nicht auf der gewalttätigen, imperialistischen Rechtslogik basiert. Der Westen sieht nicht dieses Gesicht des Islam. Weil die politischen Strukturen, die ökonomischen Modelle und das Bildungssystem in der heutigen islamischen Welt das Werk des Westens sind.

Wenn im Zuge des einigen Europas die Moslems sich zum Ausdruck bringen und der Westen Zeuge dieser Wirklichkeit wird und Nutzen daraus zieht, kann vielleicht das Fenster zu einer neuen Ordnung gelüftet werden. Eine neue Welt und eine neue zivile Ordnung. Ein neuer Mensch mit Vernunft, Gewissen und Erkenntnis.

Abdurrahman Dilipak

A.D. ist einer der bekanntesten islamischen Autoren in der Türkei. U.a. arbeitet er als Chefredakteur der Zeitschrift 'Dis Politika‘ (Außenpolitik) und als Kolumnist der islamischen Tageszeitung 'Milli Gazete‘ (Nationalzeitung).