Karlsruhes Orakel

■ Kopfzerbrechen fürs Verfassungsgericht durch Wahlgesetzklage der Grünen

Es war abzusehen: Das letzte Wort über die mit den Stimmen der Großen Wahlrechtskoalition in Gesetzesform gegossene Manipulation wird nicht in Bonn und Ostberlin, sondern in Karlsruhe gesprochen werden. Fünf Prozent plus Listenverbindungen nicht konkurrierender Parteien - das wird den acht Verfassungsrichtern des zweiten Senats in den nächsten Wochen einiges Kopfzerbrechen bereiten. Die Klage, die gestern von den Grünen gegen das gesamtdeutsche Wahlgesetz angekündigt wurde, ist nicht nur ein politisch notwendiger, sondern auch verfassungsrechtlich gut begründbarer Schritt (der auch dann nichts an Plausibilität einbüßt, sollten Anträge folgen).

Ob wir das freilich erleben werden - den Erlaß einer einstweiligen Anordnung, die Notwendigkeit eines neuen Wahlgesetzes, womöglich die Verschiebung der ersten gesamtdeutschen Wahl? Niemand kann vorhersagen, ob sich in Karlsruhe eine Mehrheit von fünf Richtern findet, die mutig genug sind, den Bonner und Ostberliner Mehrheitsparteien eine politische Ohrfeige zu verpassen.

Dabei sieht die „Rechtslage“ so schlecht nicht aus. Das Gericht hat durchaus die Möglichkeit, eine einstweilige Anordnung zu erlassen, wenn dies „zur Abwehr schwerer Nachteile“ dringend geboten ist. Und Wahlen, die nach einem womöglich verfassungswidrigen Verfahren stattfinden, sind dafür ein klassischer Fall. Es ist übrigens noch gar nicht lange her, daß man im Zusammenhang des von der CDU/CSU angegriffenen kommunalen Wahlrechts für Ausländer deren Teilnahme in Schleswig-Holstein per Eilverfahren gestoppt hat.

Sicher, es ist unwahrscheinlich, daß die Sperrklauseln als solche kassiert werden - denn dazu müßte man sich eines Besseren besinnen und mit einer diskriminierenden, seit Jahrzehnten verfestigten Rechtsprechung brechen. Doch wenn sich das Gericht schon nicht dazu durchringen kann, endlich die vielgeschmähten „Splitterparteien“ zu rehabilitieren, so mag es uns wenigstens vor der „Lex DSU“ bewahren. Denn das Konkurrenzverbot bei den Listenverbindungen ist in der Tat einzig fürs politische Überleben dieser Partei maßgeschneidert.

Wir dürfen also gespannt sein auf den Spruch des Karlsruher Orakels. Das Verfassungsgericht - sonst um juristische Argumente nicht verlegen, wenn es nur will - hat jedenfalls eine gute Gelegenheit, seine gerade in diesen Tagen durch das grandiose § 218-Fehlurteil arg angeschlagene Autorität gesamtdeutsch zu begründen. Vorausgesetzt, es entscheidet gegen den elenden Konsens der Etablierten und für die demokratische Wahlgleichheit.

Horst Meier

Der Autor ist Publizist und Rechtsanwalt und lebt in Hamburg