Der Aufstand gegen die Metropolen

■ In den südfranzösischen Provinzen formiert sich ein massiver Widerstand gegen die Pariser Hochgeschwindigkeitszüge TGV. Auch in England und der BRD wehren sich die Provinzen gegen die Abkoppelung und die ökologische Belastung

Hochgeschwindigkeitszüge in Europa

Der Ingenieur schrieb noch einen Brief, dann ging er in den Ariane-Park in Aix und knüpfte sich an einen Pinienbaum. Ein Autofahrer wird ihn am nächsten Morgen finden. „Ich weiß, daß ich weh tue“, heißt es in dem Brief des Jean-Pierre Dupuy, Absolvent der besten Technokratenschule der Republik und maßgeblicher Planer der neuen TGV-Trasse zum Mittelmeer. In drei Stunden von Paris bis Marseille, in vier Stunden bis Barcelona... Warum haben sich die Leute bloß so dagegen gewehrt?

Ebenfalls im Schatten einer Pinie, unweit der Stadt Montelimar im Rhonetal, sitzt Mariette Cuvellier, auch genannt „die Passionara des TGV“. Um sie herum liegen Banderolen von der letzten Schienenbesetzung, und einige dutzend Meter weiter hat man sich einen zehn Meter hohen Schienenwall vorzustellen, der hier bald stehen soll. Madame Cuvellier, eine Pädagogin in den Vierzigern, ist der Idealtyp einer Alptraumfrau für Technokraten: resolut, respektlos, kompetent. Und vom Traum des Jean-Pierre Dupuy, von der konkreten Utopie eines Zuges, der mit 400 Stundenkilometern die Rhone entlangrast, während drinnen wohlklimatisierte Pariser und -innen am Digestiv nippen, davon will Madame nichts wissen: „Wenn die Techniker nicht in der Lage sind, einen Zug zu bauen, der nicht nur drinnen sondern auch draußen, für die Anwohner angenehm ist - dann sch... ich auf die Technik. Bloß weil einige Pariser Direktoren und die Touristen aus Nordeuropa zehn Minuten schneller an die Cote kommen wollen, müssen wir uns 160 Mal am Tag 105 Dezibel in die Ohren blasen lassen? Ausgerechnet wir, die wir die Städte verlassen haben, um anders zu leben...?“

Die redegewandte Mariette Cuvellier ist eine der Sprecherinnen der TGV-Gegner im Rhonetal. Knapp 200 BIs sind in den letzten Wochen in Südostfrankreich auf die Barrikaden gegangen, und auch der Freitod des Homo faber konnte sie nicht bremsen. Heute werden sie sich auf nationaler Ebene zum Verband der TGV-Gegner konstituieren. Die größte Protestbewegung, die Südfrankreich seit den Winzeraufständen der Siebziger gekannt hat. Weshalb der Aufstand? Weil Hochgeschwindigkeit ein wenig „weh tut“, auch wenn sie den Wind der Zeit im Rücken hat.

Glatte Striche

durch die Landschaft

Als der TGV auf der Atlantikstrecke am 18. Mai mit 515,3 Km/h einen neuen Weltrekord aufstellte, war der Jubel groß. Endlich einmal hatten die Techniker im Lande Saint-Simons es den Deutschen und Japanern gezeigt. Und dazu noch - anders als bei den letzten Prestigeprojekten „Concorde“ und Atomkraft - ohne als Umweltsünder präsentiert werden zu können! Der ICE von Siemens, Japans Magnetzüge lagen geschlagen am Boden, und Frankreichs TGV-Schmiede Alsthom/GEC durfte hoffen, als Marktführerin Hochgeschwindigkeit zum Exportschlager machen zu können.

Bislang gab es kaum Probleme. Die Linien nach Lyon und Nantes hatten den Flugverkehr bald überflüssig gemacht, und im Norden brach zwischen Amiens und Lille fast ein Kommunalkrieg aus, durch wessen Gebiet der TGV fahren dürfte. Frohgestimmt präsentierte die staatliche Eisenbahngesellschaft SNCF dem Verkehrsminister also zu Jahresbeginn ihr „Leitschema“ für das TGV-Netz der neunziger Jahre. „Netz“ ist dabei vielleicht der falsche Ausdruck, denn alle Strecken weisen schnurstracks und provinzfliehend in Richtung Zentrale: Paris. „Mit diesem Schema würden Avignon und Aix zur Banlieue von Paris werden“, meint Mariette und erinnert daran, daß auch Hochgeschwindigkeitszüge nichts an der Allmacht der Hauptstadt geändert haben: je schneller Paris zu erreichen ist, desto weniger Grund besteht, Firmensitze und Behörden zu dezentralisieren.

Für die Strecke ans Mittelmeer, mit Anschluß bis nach Barcelona, hatten sich die Planer um Ingenieur Dupuy über ihre Karten gebeugt und lange, idealgekrümmte Linien übers Papier gezogen. Keine großen Steigungen, keine abrupten Kurven, möglichst dünnbesiedelte Gebiete - das waren die Kriterien, und so entstand die „Ost-Trasse“ von Montelimar bis nach Nizza. Die Sache hatte nur zwei Haken. Zum einen würde der Superzug nicht mehr durch menschenleere oder potthäßliche Gegenden fahren wie im Norden, sondern mittenmang durch den auch in Deutschland nicht unbekannten Weinberg „Cotes du Rhone A.O.C“ sowie durch die klassischen Provence-Landschaften von Pagnol, Cezanne und Ren Char. Zweites Ärgerniß: die durch die Dezentralisierung gewachsene Macht der Provinz-Bürgermeister...

Resistance

in der Provinz

Gemeinderatssitzung in Allan, einem Weinbauerndorf von 1.230 Einwohnern, lieblich gelegen in Sichtweite der Atomfabrik Pierrelatte. Vor den Fensterscheiben der Sitzungskammer tobt der Mistral, drinnen die Volksvertretung. Der Präsident der SNCF hat sie und ihresgleichen kurz vorher als anti -nationale Maschinenstürmer dargestellt, schließlich handele es sich nicht um eine SNCF-Sache, sondern um ein „Projekt der ganzen Nation“. Das hört man hier nicht gern, hängt doch am Rathaus noch die Tafel, auf der die Stadt wegen ihrer Resistance zum Brigadeorden vorgeschlagen wurde. „Unglaublich! Wir sind nicht gegen Technik, aber wir würden gerne auch gefragt werden. Wenn sich die Pariser Kumpanei jetzt durchsetzt, bricht hier der Staat zusammen: Wir treten geschlossen zurück!“ ketzert Gemeinderat Jean-Mich‘, und Allans Parlament stimmt geschlossen zu. Derjenige, dem der Zorn der Gemeinden hier im Departement Drome gilt, hängt derweil friedlich an der Wand, die gipserne Marianne über sich und den zornesroten Bürgermeister unter sich: Francois Mitterrand. Und das kam so.

Der Staatspräsident,

der Winzer, der Zug

und der Weinberg

Im März wurden die Bürgermeister zum Präfekten bestellt und von der TGV-Trasse in Kenntnis gesetzt. „Noch irgendwelche Fragen, Messieurs?“ Hatten sich die Deputierten doch einst für den TGV eingesetzt. Doch nun merkte etwa Henri Michel, Abgeordneter Winzer und Duzfreund des Staatspräsidenten, daß der Schnellzug durch seinen Weinberg rollen sollte. Proteste, intensives Antichambrieren - und schon erklärte Präsident Mitterrand in seiner Rede zum Nationalfeiertag, daß er sich für eine Überprüfung der Trassenführung eingesetzt habe. Wenig später legten die Ingenieure zwei Alternativrouten vor. Eine „Mitteltrasse“, die Henri Michels Weinberg in Ruhe lassen würde, dafür aber „katastrophal für die letzten bewaldeten Bergmassive von Drome und Vaucluse“ wäre, so der TGV-Beauftragte von Orange. Und eine „Westtrasse“ am Rhoneufer entlang. Letztere würde ökologisch am wenigsten Schaden anrichten (das Rhoneufer kann kaum noch verschandelt werden), hätte jedoch den Nachteil, nicht nur durch dichtbesiedeltes und hyperindustrialisiertes Gebiet, sondern auch unmittelbar an der Außenmauer von Pierrelatte entlangdüsen zu müssen, dem (nach Tschernobyl) größten Atomkomplex der Welt. Beide neuen Trassen wären teurer und langsamer als die von Mitterrand zu den Akten gelegte Oststrecke.

Nun sind Umleitungen der Rationalität zugunsten von Polit -Kumpanen auch in Frankreich nichts Ungewöhnliches. Die sechsspurige „Autoroute du Soleil“ macht bei Montelimar einen kuriosen Bogen, weil de Gaulles Außenminister Couve de Murville sein Anwesen nicht der Nation opfern wollte. Aber wenn sich, wie vorletzten Samstag, die Gemeinderäte der Provence-Städte mit Schärpe auf die Schienen setzen, egal ob links oder rechts, ob für Ost- oder Westtrasse, dann steckte da noch mehr dahinter als nur die Sorge um den Vorgarten und das Mißtrauen gegenüber der Pariser Politikerkaste. Im Gebiet zwischen Aix und Frejus, wo die letzten Waldbrände und der Tourismus schon genug Provence-Landschaft vernichtet haben, ist man inzwischen ganz gegen den TGV: „Natürlich sind Touristen willkommen. Aber sollen sie doch auf den bestehenden Gleisen kommen. Die Provence ist es wohl wert, zwanzig Minuten länger im Zug zu sitzen“, heißt es im Departement Var.

„Wir sind

keine Ökologen“

Man wehrt sich dagegen, für zurückgebliebene Ländler oder tümelnde Okzitanen gehalten zu werden. Im Rhonetal ist man es schlicht leid, nur Durchgangsstation zu sein. Marc Serein, sozialistischer Gemeinderat von Bollene: „Wir sind keine Ökologen. Wir haben nichts gesagt, als Paris uns die Rhone mit Kühltürmen, Pipelines, Kanälen und Autobahnen vollstellte. Immerhin kam dadurch Arbeit in die Gemeinden. Aber der TGV rast nur vorbei, und die Bauarbeiten werden von SNCF-Firmen gemacht. Uns bleibt nur der Krach und ein Wall inmitten der Landschaft.“ In drei Stunden von Paris nach Marseille - wunderbar, nur: was ändert das an den desolaten Zugverbindungen innerhalb der Region? Und Mariette Cuvellier: „Natürlich ist die Landschaft hier schon verschandelt genug. Aber die Leute sind auch sensibler geworden. Und der vorbeirasende TGV ist für sie das Symbol für die Mißachtung der Provinz durch die Kapitale.“ Eigentlich ganz einfache Überlegungen. Und gewiß kein Grund, sich verzweifelnd an provencalische Pinien zu knüpfen.

Alexander Smoltczyk